Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
Ulrich und Stefan sowie Emmy Toepffer bestiegen den Zug am Bahnhof Zoo und fuhren über Hannover und Köln, wo sie übernachteten, und von dort weiter über Liège, Namur und Charleroi bis zum Pariser Nordbahnhof. Die lange Reise nach Westen mit zwei Grenzkontrollen, Passformalitäten und Kofferdurchsuchungen war für die Kinder ein großes Abenteuer.
Von der Gare du Nord fuhr man mit dem Taxi zum Hôtel du Midi in der Avenue du Parc Montsouris (heute Avenue René Coty), nur wenige Schritte entfernt von dem runden Platz mit dem Löwen von Belfort, einem Monument in Erinnerung an den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. Nach ein paar Tagen zogen alle Berliner in ein Haus im südlichen Vorort Fontenay-aux-Roses (7, Route de Bievre). Dort verbrachten sie den Sommer, machten Ausflüge in die Stadt und ins Umland.
Obwohl er bei Herrn Sodemann schon ein wenig Französischgelernt hatte, war Ulrich Hessel überzeugt gewesen, dass das Französische gar nicht existierte, sondern eine Geheimsprache der Erwachsenen sei. So ganz falsch lag er damit nicht, zumindest was die Unterhaltungen seiner Mutter mit Roché betraf. Nun aber, in Paris angekommen, musste er doch zugeben, dass es diese Sprache sehr wohl gab.
Im September führte Helen nach einer schönen Exkursion eine ernste Aussprache mit ihren Söhnen. Wollt ihr nach Berlin zurück oder lieber hierbleiben?, fragte sie. Die Söhne antworteten (wie gewünscht), dass sie bleiben wollten. Eine schicksalhafte Wahl – für alle Beteiligten.
Also blieben sie. Es wurde im selben Vorort ein größeres Haus gefunden (134, Rue Boucicaut), in dem zwei von drei Etagen bewohnt werden konnten und es einen noch schöneren Garten gab (mit Pfirsichbäumen!). Beide Jungen gingen in die Grundschule in Fontenay. Ihre Französischkenntnisse verbesserten sich rasch, Kadi war bald der Beste in allen Fächern, und auch Uli glänzte durchaus. Das Einleben wurde ihnen leichtgemacht, sie wurden akzeptiert, fanden Freunde, erhielten Preise in der Schule und konnten sonntags in das einzige Kino am Ort gehen, in dem ein alter Mann mit weißen Haaren zu den Stummfilmen Klavier spielte. Paradiesische Anfänge.
Franz Hessel musste bald nach Berlin zurückkehren, er hatte dort seine Arbeit im Verlag. Roché kam nun sehr häufig, übernachtete im Zimmer der Mutter, was die Kinder nicht weiter störte, solange er sich nicht in die Erziehung einmischte, was gelegentlich passierte.
Helens Verhältnis zu Roché ließ sich zunächst gut an, wenn ihr auch missfiel, wie sehr er sein Leben nach einer Art Stundenplan eingeteilt hatte – und was die Frauen betraf, nach einem Wochenplan, aber das ahnte Helen mehr, als dass sie es wusste. Sie hoffte wohl immer noch, dass Roché sie heiraten und mit ihr Kinder haben würde.
Doch wollte sich Helen nicht in völlige Abhängigkeit von ihrem Liebhaber begeben. 1925 begann sie, für die
Frankfurter Zeitung
zu schreiben, eines der führenden deutschen Blätter. Bis ins Jahr 1938 erschienen in der Beilage des Blattes mit dem Titel
Für die Frau
ihre Berichte über die Mode. Sie schrieb aber auch kleine Feuilletons. Mit ihren Artikeln verdiente sie bis zu 750 Mark im Monat, deutlich mehr als Franz in Berlin, der wohl nie über 400 Mark kam und einige Zimmer seiner Wohnung untervermietete.
Frauen als Auslandskorrespondenten gab es kaum in diesen Jahren. Die junge Französin Stéphane Roussel zum Beispiel durfte zwar für ihren alkoholkranken Chef Berichte aus Berlin für
Le Matin
schreiben, aber nie mit ihrem Namen zeichnen.
Geschrieben hatte Helen Hessel aber schon früher. So soll sie einige Passagen in Franz Hessels Romanen geschrieben haben. Im Jahrgang 1921 der Zeitschrift
Das Tagebuch
finden sich Aphorismen von Helen Grund, sie sind überschrieben mit
So ist es
. Die kessen Aussagen, entstanden im Überschwang zu Beginn ihrer Affäre mit Roché, vermitteln ein Bild vom Temperament der Autorin.
Recht hat man immer nur einen Augenblick.
Wer sich täuscht, betrügt andere.
Überfluss ist das Maß der Götter.
Jeder Verlust bereichert die Freiheit.
Wer keinen Mut hat, braucht eine komplizierte Philosophie.
Viele Männer machen eine Frau.
Kein Gewissenhafter kann Wort halten.
Eifersucht verpflichtet den Partner zur Untreue.
Liebe ist Durst und Getränk zugleich.
Treue ist Faulheit.
Franz Hessel hatte 1925 sein altes Paris nicht wiedergefunden, er mochte wohl auch nicht in unklaren Verhältnissen leben. Er ging zurück nach Berlin. Dort schrieb er einige
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