Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
hinter sich lassen, auch die der Zionisten, die nicht daran glaubten, dass die Juden ihren Platz in der deutschen Gesellschaft finden würden – und vor 1933 eine Minderheit waren. Immerhin hatte Hessel anfangs genügend Geld, konnte unabhängig leben, war aber zugleich unfähig, sich zu binden, wurde allerdings kein fanatischer Liebesjäger wie Roché.
Dieser unruhige, verspielte, verträumte Mensch, ohne Besitzdrang in der Liebe, suchte in Wahrheit etwas Zeitloses, suchte Gesetze, vielleicht sogar DAS Gesetz. Später fand er einen Autor, der ähnlich empfand, der ganz in der Nostalgie und der Verklärung der Erinnerung lebte, Erinnerung auch an das Versäumte, an die verlorene Zeit, und den mochte er übersetzen: Marcel Proust.
Denn Hessel wollte kein großer Autor sein, nicht bedeutende Werke schaffen, nicht bauen, sondern nur schauen, und was er selber schrieb, war nur die Emotion des Abgeschauten und Angeschauten. In Wahrheit musste man nicht erobern, sondern gelten lassen. »Nur was uns anschaut, sehen wir«, schrieb er einmal.
Er war der bescheidene Diener, er lebte glücklich im Sekundären, im Abgeleiteten, aber das war nicht Faulheit, mangelnde Begabung oder Unfähigkeit: Es war Andacht, Respekt, denn er glaubte, dass auf diesem Weg die Welt verbessert würde: durch teilnehmende Liebe, nicht durch Eingriffe. Dieser glückliche Alltagspazifismus und Liebesquietismus waren seine Lebensphilosophie, er hat sie allerdings erst erwerben müssen.
In seiner Frau fand er das genaue Gegenteil. Helen war fordernd, bestimmend, unternehmungslustig, wild, übermütig. Sie lebte aus dem Körper heraus, in der Liebe, im Sport, auf Autoreisen; er war der Rhapsode der vorgefundenen Welt, sie war die Abenteurerin, sie forderte das Leben heraus, suchte das Immerneue, verlangte das Unmögliche.
Emmy Toepffer, die Kinderfrau der Hessels, meinte: Franz sei ein Weiser, Helen aber ein Naturereignis. Dieser Gegensatz hatte sich angezogen. Er war das gespaltene Erbe der Söhne. Glücklich wurden die Eltern nicht. Und trotzdem vertraten beide, jeder auf seine Art, den Standpunkt des Glücks. Gerade die umtriebige Mutter tat es. Es war ihre wichtigste Lektion an die Söhne: Sei glücklich, und du wirst andere glücklich machen. Das merkte sich der kluge Stefan. Und er gewöhnte sich an, sein Glück zu demonstrieren, das gehörte und gehört zu seinem Erfolgsrezept. Nie zu klagen, das wiederum war die Lektion gewesen, die er vom Vater bekommen hatte.
Franz Hessel diente dem Autor Casanova, dessen Memoiren er bei Rowohlt edierte. Bei ihm fand er die Formel von »Paris als Heimat der Fremden«, die ja auch für seine eigenen frühen Jahre galt. Der realen Figur eiferte Hessel aber nicht nach, er pflegte den Text, nicht die Methode. (Bei Roché war es genau umgekehrt.) Schließlich war das seine Arbeit: Übersetzen, Lektorieren, Edieren. Und war doch fasziniert von der urtümlichen Manneskraft, die der Venezianer an den Tag gelegt hatte. Ebenso sehr liebte er den Dichter, der das Inventar der französischen Gesellschaft schaffen wollte, einen Berserker, der nur 51 Jahre alt wurde, der in weniger als 25 Jahren ein unglaubliches, unüberschaubares Werk schuf: Hessel ließ die
Menschliche Komödie
von Honoré de Balzac von namhaften Autoren in sein geliebtes Deutsch übertragen – was auch ein großes Werk war. Er selbst übersetzte den Roman zweier Sonderlinge,
Der Vetter Pons
, eine Geschichte wie Jules und Jim, nur ohne Frau im Bunde.
Ähnliches hatte er erlebt. Roché hingegen hatte den Anspruch, ein neuer Balzac zu werden, wurde dem allerdings nicht einmal im Ansatz gerecht, dafür war er aber ein zweiter Casanova. Ein Kerl von faunischer Kraft. Der einen entsetztund zugleich fasziniert, der seine Abgründe einerseits verborgen hält, andererseits genau protokolliert, Beischlaf um Beischlaf – um was zu beweisen? Um wem zu imponieren? Um welchen Prozess gegen sich selbst zu führen? Es ist ein Rätsel.
Ebendieser Freund spielte Schicksal, auch für die Kinder. Letzten Endes war er es, der dafür sorgte, dass Uli und Kadi Franzosen wurden, denn sie mussten ihrer Mutter schließlich nach Paris folgen. Weil Helen diesem fremden Reiz nicht widerstand, wurde ihr Sohn Stéphane in der neuen Heimat ein Held des Widerstands.
Zweite Kindheit
Nach einiger Zeit des Abwartens beschloss Helen, das Schicksal zu zwingen und nach Paris zu ziehen. Anfang Juli 1925 fuhr sie zu Pierre. Einige Tage später kam ihre Familie nach. Franz,
Weitere Kostenlose Bücher