Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
Bruder Ulrich. In den großen Ferien machte Stéphane mit seinen Kameraden Wiazemski und Joseph Berkowitz Kanutouren auf dem Fluss Vézère und auf dem Tarn, 1933 sogar auf dem Ebro bis zu dessen Mündung, schließlich an der Küste entlang über Port Bou bis Cerbère.
1929 zog Helen mit ihren Jungen in die Rue Ernest Cresson 13 im 14. Arrondissement. Von dort konnte man zu Fuß bis zur École Alsacienne gehen. Vier Jahre lang wohnten sie dort in kleinen Zimmern. Zum Ausgleich für das reine Stadtleben wurden Uli und Kadi zu den Pfadfindern geschickt. Auch bei den »boy scouts« fanden sie Freunde fürs Leben. An jedem Sonntag schwärmten sie aus in die Wälder im Süden von Paris, bei Meudon oder bei Fontainebleau. Im Sommer ging es in Zeltlager in der Bretagne.
1928 waren die Jungen erstmals wieder nach Berlin gereist und begannen, die Unterschiede zwischen beiden Ländern zu begreifen. Ulrichs epileptische Anfälle häuften sich in der Folgezeit, vielleicht als Reaktion auf sein wachsendes Unbehagen. 1929 wurde er aus Gesundheitsgründen für ein Jahr von der Schule genommen. 1931 fiel er beim Abitur durch. Nach einem Ferienaufenthalt in der Schweiz fuhren die Hessels im Herbst 1931 nach Salem, unweit des Bodensees. Helen kannte den Leiter des dortigen Schloss-Internats, Kurt Hahn. Ulrich blieb auf dieser Schule bis zu seinem Abitur im Jahr 1933. Stéphane wollte auf jeden Fall weiter in Paris zur Schule gehen.
Den Sommer 1932 verbrachten Kadi und Uli auf Mallorca. Sie waren dort zusammen mit ihrer Kusine Ilschen, der Tochter von Helens Schwester Ilse, die sich ein paar Jahre zuvor das Leben genommen hatte. Ilschen wurde später unter dem Namen Juliette Lasserre eine erfolgreiche Fotografin. Auch Helen und Franz, die sich 1928 erneut hatten scheiden lassen, aber nicht voneinander loskamen, sowie Emmy Toepffer reisten auf die Insel. Roché hätte ebenfalls kommen sollen, hatte aber im letzten Augenblick abgesagt. Helen war ihm gegenüber immer distanzierter geworden, und er verbrachte nur noch wenig Zeit mit ihr.
Als Stéphane im Sommer 1933 von seiner spanischen Paddeltour nach Paris zurückkam, fand er eine sehr verstörte Mutter vor. Sie hatte den endgültigen Bruch mit Rochévollzogen. Es hatte einen sehr hässlichen Streit gegeben, mit Morddrohungen und Schlägen (vonseiten Helens). Roché hatte einige Zeit zuvor seine langjährige Gefährtin Geneviève heimlich geheiratet. Und nun hatte der alte Fuchs ein Kind mit einer anderen Frau gezeugt, mit Denise Renard, einer Angestellten in einer Kunstbuchhandlung. Als Helen davon erfuhr, verlor sie die Nerven. In der Nacht zum 14. Juli 1933 schien sie zum Äußersten bereit, bedrohte den unfassbaren Geliebten mit einem Revolver. Roché und die herbeigeeilte Charlotte Wolff konnten nur mit Mühe einen gewaltsamen Racheakt verhindern. Helen als Furie, voller Wut auf das Schicksal und die unerbittlichen Gesetze des Lebens – auch in der Rolle müssen wir sie uns als mythische Gestalt vorstellen. Immerhin war sie keine Medea und verschonte ihre Kinder.
Helen und Roché haben sich nach diesem Streit niemals wiedergesehen. Ihren Kindern verbot Helen sehr streng, jemals wieder Kontakt mit Roché aufzunehmen. Und auch Franz blieb nunmehr auf Distanz zu seinem alten Gefährten – Helen ließ es ihn versprechen. So unromantisch endete eine fröhliche Freundschaft, eine große Leidenschaft.
Um die Trennung von Franz tat es Roché mehr leid als um die von Helen. Er erinnerte sich an ihre Anfänge in Montparnasse, an ihre guten Gespräche, ihren Übermut. Und er dachte schon daran, einen Roman über sein Verhältnis zu Franz zu schreiben, in dem Helen keine Rolle spielen sollte. Aber zunächst mussten die Wunden verheilen, mussten viele Jahre vergehen und ganz andere Umstände eintreten, ehe Roché diesen Roman wirklich schreiben konnte – und in dem Helen unverzichtbar war.
Zum Glück hing Helen nicht allein von der Liebe ab. Zwar war sie ziemlich schlichten Illusionen aufgesessen, musste auch etwas blind gewesen sein, die wahre Natur ihres Pierre nicht zu erkennen. Vielleicht hatte sie ja der Traum von Paris geblendet. Helen hatte an die große Liebegeglaubt und zwei bittere Enttäuschungen erlebt. Franz war sanft und anders als die Männer aus ihrer Familie, exotisch genug, auf sympathische Art versponnen und verspielt wie ihr eigener Vater. Doch als Familienvater und als Geliebter genügte er ihr nicht. Hessel war selbstironisch genug, um zu dichten:
Verzeih mir,
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