Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
Tagebuch ausweist, aber den offenen Bruch wagte er nicht.
Es gibt also keinen Grund, die Affäre Franz – Helen – Pierre zu verklären. Es war kein gelungenes Dreieck, überhaupt keine neue Form, keine Lebensrevolution, allen literarischen Abwandlungen zum Trotz.
Das Leben der Kinder nahm davon unbeeinflusst seinen Gang. Sie wuchsen in die französische Gesellschaft hinein, was Stefan etwas leichter fiel als Ulrich, und zu Hause wurde nur noch Französisch gesprochen. Dass Stefan ein Glückskind des Schicksals war, sollte sich an seinem achten Geburtstag erweisen.
An jenem 20. Oktober 1925 fuhr er mit Mutter und Bruder in die Stadt. Von Fontenay-aux-Roses kam man mit den Tramlinien 86 und 127 bis ins Herz der Hauptstadt. Stefan stand gern auf der offenen Plattform am Ende der Wagen. Man stieg am Boulevard Saint-Michel aus, an der Haltestelle Val-de-Grâce, nahe beim gleichnamigen Militärhospital. Die Straßenbahn hielt in der Mitte des Boulevards,Stefan hatte es eilig, herauszukommen, achtete aber nicht auf den Verkehr. Ein Pkw erfasste ihn. Helen stieß einen lauten Schrei aus. Der Wagen fuhr ungebremst weiter, überrollte den Jungen, der sich lang hinstreckte – und sogleich danach aufstand, lächelnd wie ein junger Siegesgott, eine Hand in die Höhe gereckt. Er hatte nur ein paar Schrammen abbekommen. Es war nicht das letzte Mal, dass er ausgerechnet an seinem Geburtstag unmittelbarer Lebensgefahr entging.
Er war noch kein Franzose, die französische Staatsbürgerschaft erhielt er erst 1937, aber wir wollen ihn von nun an mit seinem französischen Namen nennen, wie es auch die Pariser Schulkameraden getan haben: Stéphane. Bei diesem Namen dachte man dort nicht an Stefan George, den in Frankreich ohnehin niemand kannte, sondern, wenn schon an einen Dichter, dann an Mallarmé, dessen Frau aus Deutschland kam und der die englische Sprache liebte – er übersetzte zum Beispiel Poe –, also in den drei Sprachen lebte, die auch Stéphane Hessels Leben bestimmen sollten.
Zum Schuljahr 1926/27 wechselten die Hessel-Buben die Schule. Man schickte sie auf die École Alsacienne, die im sechsten Pariser Arrondissement lag, in der Rue Notre-Dame des Champs, einer Seitenstraße des Boulevard du Montparnasse, also noch im kleinen Schicksalsdreieck der Familie Hessel. Umzuziehen brauchte man nicht, denn von Fontenay aus erreichte man die Schule direkt mit der Tramlinie 127. Sie war nach der Annexion des Elsass durch das Deutsche Reich von protestantischen Pädagogen aus Straßburg gegründet worden und hatte bald großes Prestige erworben, auch wegen ihrer Liberalität.
Ulrich erging es in dieser Schule nicht so gut. Oft wurde er als »boche« gehänselt, zu wenig entsprach der wendigfreche Pariser Geist seinem phlegmatischen Temperament. Er hatte bald »genug von diesem Frankreich«, wollte wieder nach Deutschland. Stéphane hingegen hat nur gute Erinnerungenbewahrt, aber vielleicht hat er das weniger Gute einfach verdrängt.
Phantasiewelten gehörten immer schon zu Stéphane, als Teil seines Lebens, nicht als Kunstwerke. In der École Alsacienne schuf er sich ein imaginäres Königreich, in dem er der heimliche Prinz war und seine Kameraden als Helfer agierten. Daheim füllte er ein ganzes Heft mit einem ausgedachten Atlas. Es gab aber nur eine einzige Weltgegend darin, den Archipel Hesselland. Familie und Freunde, jeder hatte sein Eiland – Monaden des Schicksals. Vielleicht sollte man Stéphane Hessels ganzes Leben in dieser Weise nachgestalten, als Geschichten-Atlas der gewonnenen und verlorenen Inseln.
In der École Alsacienne lernte Stéphane die Atmosphäre kennen, die sein ganzes Leben bestimmt hat: internationale Kameradschaft. Er wurde zum überzeugten Franzosen, aber zum Chauvinisten war er nicht geeignet. Bei diesem Zuwanderer gab es keine Überanpassung. Seine Freunde waren der Herkunft nach Engländer, Polen oder Russen. Und er selber galt ja noch als Deutscher.
Zu seinen engeren Kameraden zählte Jean Wiazemski, ein echter russischer Prinz, der später Schwiegersohn des Schriftstellers François Mauriac und Vater der Schauspielerin und Schriftstellerin Anne Wiazemski wurde. Ferner Alexandre Minkowski, der Politiker wurde, Georges Kagan, ein großer Gedächtniskünstler, mit dem Stéphane Übungen machte: Es war ihr Stolz, alle Länder, Städte und Flüsse zu kennen, auch alle Métro-Stationen von Paris mitsamt ihren Ausgängen! Kagan war begabt und behindert, das kannte Stéphane von seinem
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