Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
Liebchen
und hab Erbarmen,
dass ich nicht gestorben bin
in Deinen Armen.
In Roché meinte Helen, den Mann gefunden zu haben, der ihr gewachsen war. Für ihn gab sie ein Leben auf, wechselte das Land, die Stadt, die Familie. Sie glaubte wohl, dass sie ihre Entscheidung von 1913 revidieren könne. Aber da war sie an den Richtigen geraten. Für ihn war sie nur eine Frau in einer langen Reihe von Geliebten gewesen. Es fehlte nur der Leporello, der ihr die Namensliste vorgelesen hätte.
Dabei war Roché kein Zyniker, eher naiv wie ein wildes Tier, kannte durchaus den Wunsch nach Anhänglichkeit, nach Freundschaft, auch den Wunsch nach Dauer, sogar den Kinderwunsch. Nur ließ sich mit Helen keine zweite Familie gründen, denn er erbte die erste, die seines besten Freundes, für die er auch ein gewisses Maß an Verantwortung übernahm. Er war ja wohlhabend.
Aber kann man sagen, dass Helen betrogen wurde? Ihre Neigung zu Roché lebte aus ihrer Abenteuerlust, ihrer Lust am Aufbruch, vor allem aus der sexuellen Lust. Mit Roché erlebte sie die große Lust, die laut Nietzsche Ewigkeit will und doch nur einen Augenblick besteht. Wie konnte sie auf anderes hoffen? Wie kann der Akrobat der Liebe zugleich ein Romantiker à la Franz-Jules sein? In dieser Leidenschaft lag auch, von beiden Seiten, ein bisschen Überspanntheit, ein latenter Wahn. Daher die Wildheit, das Exzessive, dasÜbermäßige, auch das Intensive, daher auch die Unmöglichkeit, das Miteinander dauerhaft zu machen. Es musste mit einer Katastrophe enden. Gemeinsam in den Abgrund, so hätte es kommen können. Aber dieser melodramatische Schluss blieb der Literatur und dem Film vorbehalten. Und doch hat es im wahren Leben nicht an Drama und Tragik gefehlt.
Reifeprüfungen
Helen verlor im Jahr 1933 die Aussicht auf das erträumte Leben mit Roché in Paris und zugleich, mit der Machtergreifung der Nazis, die Chance auf eine Rückkehr nach Berlin. Helen war keine Jüdin, sie war nicht politisch aktiv, sie hätte private Gründe gehabt, nach Berlin zurückzukehren. Doch mit dem NS-Regime konnte sie sich nicht abfinden, das stand nicht eine Sekunde zur Debatte. Dazu war ihr Freiheitswille zu stark. Gleichwohl schrieb sie noch einige Jahre für die
Frankfurter Zeitung
, um so ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Es war die einzige Zeitung im Reich, die noch ein gewisses Maß an Meinungsfreiheit hatte.
Da sie gefahrlos ins Reich ein- und wieder ausreisen konnte, hielt sie Anfang 1935 in ihrer Eigenschaft als Pariser Modekorrespondentin vor der Deutschen Meisterschule für Mode in München einen Vortrag über »Das Wesen der Mode«. Sie berichtete von der Haute Couture in Paris, von den Modetrends, den Modemachern und der Modepresse.
»Was ist die Mode, was versteht man unter ihr? Sie ist das Bildwerden einer zutiefst in der Menschheit wurzelnden Sehnsucht nach der Vollkommenheit. Sie ist der Beweis, dass die Menschheit dem Ideal der Grazie und der Anmut verpflichtet ist wie ein Künstler, der das Geleistete wohl eine Zeitlang bewundern kann, bis ihn der Trieb zurVollkommenheit in neue Unruhe stürzt. An der Mode kann man nachweisen, dass das Gefühl für das Schöne sich nicht festlegen lässt, sondern von Epoche zu Epoche Wandlungen unterliegt. […] Die Mode […] ist keine Entgleisung der Vernunft. Sie ist die große Erzieherin der Frau, die sie davor bewahrt, hässlich zu werden.«
Für ihren Sohn Stéphane öffnete sich 1933 ein neuer Horizont: Im Oktober ging er für ein Jahr nach London, wohnte in West Wickham bei einem Cousin seiner Mutter. Er lernte Englisch bei dessen beiden Söhnen, erkundete mit ihnen die Stadt und begann, englische Gedichte auswendig zu lernen, die sich für ihn mit dem Stadtplan verbanden. Die Poesie war seine Religion. Sie erschloss ihm den Geist einer Sprache, eines Landes, einer Kultur. Sie war die Form seiner Subjektivität. Über der Poesie vergaß er das harte Lernen nicht. An der London School of Economics erfuhr er einiges über die Geschichte der Diplomatie. Und plötzlich hatte er ein Berufsziel vor Augen, auch wenn seine Mutter ihn sich eher als Direktor eines großen Hotels vorstellte.
In Paris lebte Helen inzwischen mit der aus Deutschland emigrierten Psychologin Charlotte Wolff in der Rue de la Montagne Sainte-Geneviève. Die Wohnung hatte ihnen die Malerin Baladine Klossowska überlassen, die Mutter des Malers Balthus. Stéphane lernte eine junge Österreicherin kennen, die Autorin Maria Kreitner, in deren
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