Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
Heirat überrascht, Helen nahm es sogar übel. Viele Jahre sollte es dauern, ehe sie sich mit dem Faktum abfand und sich mit Vitia versöhnte. Vitias Familie war auch kritisch, zeigte es aber nicht so offen.
Im Januar 1940 wurde der Offiziersanwärter Hessel nach Ancenis an der Loire verlegt, östlich von Nantes. In dieser Zeit konnte er Vitia häufig sehen. Sie unterrichtete Geschichte-Geographie (in Frankreich ist das ein einziges Schulfach) an einem Pariser Gymnasium und nahm am Wochenende den Zug zu ihrem Mann. Der Krieg war erklärt, wurde aber nicht geführt. »Une drôle de guerre«, ein komischer Krieg, sagten die Franzosen. Die Deutschen nannten es »Sitzkrieg«. Es war kein Spiel, sondern Taktik.
Im März 1940 wurde Stéphanes Kompanie an die Saar verlegt, näher an die mögliche Front. Die Radfahreinheit unter Oberst Pierre Fourcaud war noch vor den Befestigungen der Maginot-Linie stationiert. Stéphane, der sich langweilte, unternahm eigenmächtige Erkundungen. Noch einmal durfte er auf Heimaturlaub.
In dieser Zeit wohnte Helen im 7. Arrondissement (22, Rue de Grenelle). Dort begegnete Stéphane Silvia Beach und Adrienne Monnier, den Inhaberinnen der berühmten Buchhandlung Shakespeare & Co. In diesem Jahr 1940 wurde auch ein erster Text von Stéphane anonym in der
Gazette des amis des livres
abgedruckt. Er handelte vom Armeealltag und vom Lesen, auch vom Nutzen des Gedichtelernens in kritischen Zeiten. Da der Krieg auf sich warten ließ, schrieb Stéphane außerdem ein Feldtagebuch mit Betrachtungen und Gedichten. Schon damals äußerte er den Gedanken, dass man sein Schicksal stets dankbar annehmen müsse.
Als die Wehrmacht am 10. Mai 1940 den Blitzkrieg entfesselte und Frankreich in wenigen Tagen niederwarf, erlebte Stéphane eine kurze Feuertaufe durch leichten Artilleriebeschuss, aber kein eigentliches Gefecht. Sein Krieg war nur kurz, die französische Armee löste sich nach wenigen Wochen kläglich auf, Stéphane setzte sich nach Süden ab, um nicht in deutsche Gefangenschaft zu geraten, wie es über drei Millionen Kameraden geschah.
Im Dezember 1940 sah Stéphane den Oberst Fourcaud in Marseille wieder. Im Süden baute Fourcaud zusammen mit Gaston Deferre das Résistance-Netz Brutus auf, wich aber bald nach London aus, wo ihn Stéphane erneut traf. Von London aus ließ sich Fourcaud auf Missionen ins besetzte Frankreich schicken, wurde zweimal verhaftet, konnte beide Male flüchten, kämpfte 1944 im Maquis in Savoyen. Nach dem Krieg wurde er die Nummer 2 des SDECE, des französischen Auslandsgeheimdienstes. Mit solchen Gestalten bekam es Stéphane nach der französischen Niederlage zu tun – und mit solchen Kampfformen. Sein Leben hatte endgültig aufgehört, ein Spiel zu sein, obwohl das spielerische Element unter keinen Umständen verlorenging. Aber vielleicht verrät man damit schon eines seiner wirklichen Geheimnisse.
Auf der Flucht in den vorerst unbesetzten Süden des Landes wurde Stéphane Hessel begleitet von Oberst Henri Segonne. Die von den Deutschen geschaffene Demarkationslinie überwand man eingeschlossen in eine Zugtoilette. Segonne erzählte von General de Gaulle, der in Londoneine Exilregierung gebildet hatte und dazu aufrief, sich ihm anzuschließen.
An die folgenden Monate konnte sich Stéphane Hessel in späteren Jahren nur ungenau erinnern. Irgendwann traf er Vitia und ihre Eltern wieder, auch sie hatten es in den Süden geschafft und waren in Aix-en-Provence untergekommen. Gemeinsam zogen sie nach Montpellier, wo sich Stéphane pro forma als Student der Philosophie einschrieb. Schließlich kamen sie in einem kleinen Hotel in Marseille unter. Stéphane versuchte, etwas Geld durch den Verkauf von Zeitungen am Bahnhof Saint-Charles zu verdienen. In der Stadt hatten sich Zehntausende Flüchtlinge eingefunden, die aus dem besetzten Frankreich fliehen wollten, doch da kaum noch Schiffe abgingen, war das ein Problem. Den meisten blieb nur die legale oder illegale Ausreise über Spanien.
In Marseille sah Stéphane Hessel Walter Benjamin wieder, der in einer Pension untergekommen war. Im Gespräch zeigte sich der Philosoph sehr deprimiert über den Gang der Dinge, war vor allem enttäuscht über die Sowjetunion. Sie hatte im August 1939 einen Pakt mit Hitlerdeutschland geschlossen und die kommunistischen Parteien angewiesen, sich aus dem Krieg herauszuhalten.
Walter Benjamin wurde im September 1940 aus Frankreich herausgeschleust durch die Hilfsorganisation, die der
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