Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
Zeitungen. Franz bekam eine Anstellung als Bibliothekar im Haus der Gräfin Alix von Rothschild, in der Avenue Foch Nummer 19.
Stéphane absolvierte seit 1937 die École Nationale Supérieure, damals die wichtigste Eliteschule des Landes. Doch nachdem er im Oktober 1937 die französische Nationalität erhalten hatte – genau an seinem 20. Geburtstag! –, musste er die Aufnahmeprüfung noch einmal ablegen, da er bisher dem Ausländerkontingent zugerechnet worden war. Vive la bureaucratie! Statt der weiteren Ausbildung, die erst 1939 beginnen sollte, gab es Krieg …
Stéphane Hessel war längst wirklich zum Franzosen geworden, kulturell und mental, er hatte sich das nonchalante Pariser Selbstbewusstsein und den Umgangston der Eliteschüler angeeignet, die französischen Klassiker gelesen und soziale Erfahrungen gemacht. Seine akademische Ausbildung bestand immer nur aus Anfängen und Absichten, die ihn mehr atmosphärisch als substantiell prägten, eine sehr hesselsche Form des Flanierens durch die geistig-ästhetische Welt. Wichtiger als jedes Studium waren für ihn die Lektionen des Lebens. Auch in der Liebe enttäuschte er seine Mutter immer wieder.
1938 traf die Fotografin Marianne Breslauer, eine Freundin der Familie, Franz Hessel in Paris in der Rue de Rennes. Mitten im Gespräch mit der Fotografin blieb er stehen und sagte: »Marianne, das ist doch unvorstellbar, der Kadi hat eine Freundin.« Die Angesprochene zeigte sich nicht überrascht, sie hatte den Charme des Jungen schon früh erkannt. 1929 war sie für eine wunderbare Fotoserie nach Paris gekommen, hatte auch einen kurzen Film gedreht, in dem Stéphane einen Jungen am Seine-Ufer darstellte – da war er erst zwölf. Auch von Helen hat Marianne Breslauer in Paris ein sehr eindrückliches Fotoporträt gemacht, in dem sie deren eigenwillige Persönlichkeit gut eingefangen hat.In der Tat hatte Stéphane im Jahr 1938 eine Freundin gefunden, die sich »Vitia« nannte, aber eigentlich Victoria hieß und 18 Jahre alt war. Da sie diesen Vornamen nicht mochte, hatte sie sich für die männliche Kurzform des russischen Namens Victor entschieden. Genau wie Kadi hatte Vitia eine geliebte Gouvernante gehabt, wie in bürgerlich-russischen Familien üblich: Sie hieß Valya Spirga, genannt La Vava, eine robuste Lettin aus Riga, exzellente Köchin und kinderliebe Betreuerin. Sie war mit der Familie vor den Bolschewiki nach Paris geflohen und sollte sich Jahre später um die drei Kinder von Vitia und Stéphane kümmern.
Vitias Vater, Boris Mirkine Guetzévitch, ein liberaler russischer Jude, war 1919 aus Sankt Petersburg geflohen. Er war Professor für Russisches Recht, mit der besonderen Spezialität Verfassungsrecht. 1892 in Kiew geboren, studierte er in Sankt Petersburg und setzte sich für eine Reform des Rechtssystems in Russland ein. Im Jahr 1916 wurde er wegen eines Zeitungsartikels zur Deportation nach Sibirien verurteilt, doch wurde die Strafe nicht vollstreckt. Nach dem Zusammenbruch des Zarenregimes hoffte er auf eine Demokratie im westlichen Stil. Als sich aber die Bolschewiki durchsetzten, verließ er das Land und ging nach Paris, wo er eine Familie gründete. 1933 erhielten er und die Seinen die französische Staatsbürgerschaft.
Stéphane war hingerissen von Vitia, schrieb ihr verführerische Briefe, aber sie ergab sich nicht so schnell. Immerhin gestand sie ihm Radtouren entlang der Seine zu. Helen gefiel diese Wahl gar nicht und grollte enttäuscht, sie wolle ihren Sohn nicht an einen »russisch-jüdischen Klüngel« verlieren. Im Sommer 1939 unternahm Stéphane mit Vitia eine Art vorgezogene Hochzeitsreise nach Griechenland. Erlebnisse in Athen, in Olympia und am Kap Sunion wurden zur bleibenden Erinnerung.
Die gefährliche Gegenwart holte sie jedoch schnell ein. Der Kriegsausbruch am 1. September und die Mobilmachungüberraschten sie in Hellas. Sie meldeten sich auf dem französischen Konsulat in Athen, die Militärs halfen bei der Heimreise. Mit anderen Kameraden aus der École Normale wurde Stéphane eingezogen und in Saint-Maixent-l’École stationiert, im Département Deux-Sèvres, das zur Region Poitou-Charente gehört. Der Ort liegt zehn Kilometer nordöstlich von Niort, auf dem Weg nach La Rochelle. Noch bevor die militärische Lage ernst wurde, beschlossen Stéphane und Vitia zu heiraten. Die Trauung fand im Rathaus der Unterpräfektur statt, zwei Kameraden aus Stéphanes Kompanie dienten als Trauzeugen. Beide Elternpaare wurden von der
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