Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
Zug über Marseille nach Les Milles gebracht, einem Vorort von Aix-en-Provence. Dort pferchte man einige Tausend Männer in eine leerstehende Ziegelei.
Als auch Helen abgeholt werden sollte, legte sie sich nackt unter die Bettdecke und sagte zu den französischen Gendarmen: »Sie werden doch wohl Frankreich nicht entehren und die Mutter eines französischen Offiziers abholen.« Die Gendarmen ließen einen Arzt kommen, der ein Attest ausstellte, dass Frau Helen Hessel aus Krankheitsgründen eine »transportunfähige Ausländerin« sei. So blieb sie frei. Dass einer ihrer Söhne der französischen Armee angehörte, spielte keine Rolle. Andere Frauen wie Marta Feuchtwanger hatten weniger Glück und wurden im Lager Gurs interniert.
Als die deutschen Truppen immer weiter nach Frankreich eindrangen, hielten es die Behörden für angebracht, alle Männer aus Les Milles in einem Zug Richtung Bordeaux zu befördern. Als sich die Deutschen auch dieser Stadt näherten, kehrte der Zug wieder um und brachte alle in die Nähe von Nîmes, wo sie auf dem Militärgelände Saint-Nicolas in einem Zeltlager kampierten. Von Franz Hessel wird berichtet, er habe sich in diesen schlimmen Tagen, in denen sich manche das Leben nahmen oder an Krankheiten starben, gleichmütig und abgeklärt benommen, habe sogar literarische Pläne entwickelt.
Ende Juli 1940 kamen die Hessels, wie auch andere Emigranten, frei. Sie zogen wieder bei Madame Richarme ein. In Sanary war die Versorgungssituation sehr schlecht. Franz Hessel ging mit dem Einkaufsnetz auf Fang, und auch um Heizmaterial musste man sich in diesem feuchtkalten Winter sehr bemühen. Gelegentlich fuhr Franz mit dem Zugnach Le Lavandou, um den österreichischen Autor Emil Alphons Rheinhardt zu besuchen, der auch in Les Milles interniert gewesen war.
Weihnachten und Neujahr verbrachte er wieder bei der Familie, in gelöster Stimmung. Nichts deutete auf die bevorstehende Katastrophe hin. Am 6. Januar legte er sich plötzlich auf sein Bett, stieß einige Seufzer aus und verstarb innerhalb weniger Minuten. Der rasch herbeigeholte Arzt konnte nur noch den Tod feststellen. Helen war schockiert, wollte es nicht glauben, aber der Arzt wiederholte seinen Befund. Ulrich meldete den Tod am nächsten Tag auf der Mairie und ging auch zum Bestattungsinstitut Mistre gleich hinter dem Rathaus.
Als Franz Hessel am 8. Januar 1941 auf dem Alten Friedhof von Sanary begraben wurde, hatte sich eine kleine Trauergemeinde aus Emigranten eingefunden, zu denen Alfred Kantorowicz zählte. Der Schriftsteller Hans Siemsen, den Franz Hessel noch aus Paris kannte, hielt eine kleine Ansprache, die er mit Versen von Ringelnatz schloss. Zur Beisetzung waren auch Stéphane Hessel und seine Frau Vitia aus Marseille herübergekommen. Helen lieh ihrer Schwiegertochter einen breitrandigen schwarzen Hut.
Stéphane brachte seine Mutter in Kontakt mit Varian Fry, für den sie manchen Auftrag übernehmen konnte. Im Sommer 1941 mussten Fry und seine amerikanischen Mitarbeiter überstürzt den Rückweg über Spanien und Portugal in die Vereinigten Staaten antreten, da die Regierung in Vichy sie ausgewiesen hatte. Helen begleitete die kleine Gruppe bis zur Grenze nach Cerbère. Ein Foto hat den Abschied auf dem Bahnsteig festgehalten. Die Flüchtlingsarbeit wurde von anderen Helfern noch einige Wochen fortgesetzt. Aber nicht allen Flüchtlingen gelang es, aus dem besetzten Land zu entkommen. Als im März 1942 die Deportationen von Juden aus der besetzten Zone und etwas später auch aus der unbesetzten Zone begannen, wurden auch Emigranten ausSanary Opfer des Völkermords. Die Ziegelei in Les Milles wurde zu einer Zwischenstation auf ihrem Leidensweg.
Als die Deutschen am 11. November 1942, nach der Landung der Alliierten in Nordafrika, ganz Frankreich besetzten, kamen die deutschen Soldaten auch nach Sanary. Bis dahin hatte das Département Var zur italienischen Besatzungszone gehört. Nun beschlossen Helen Hessel und ihr Sohn Ulrich, sich in die Schweiz zu retten. Sie schlugen sich durch bis Thonon-les-Bains auf der französischen Seite des Genfer Sees. Ein »passeur«, ein Schleuser, ruderte sie und andere Flüchtlinge eines Nachts auf die andere Seite. Die Schweizer Behörden empfingen sie freundlich, brachten sie für eine Nacht in einem requirierten Hotel unter, das völlig überfüllt war – und schoben sie wieder nach Frankreich ab. Die Hessels galten als nicht gefährdet genug.
In dieser Situation unternahm Ulrich
Weitere Kostenlose Bücher