Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell

Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell

Titel: Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Fluegge
Vom Netzwerk:
mit Spielen und Jugenderzählungen. Nach ein paar Tagen wird Harry Peuleve zum Tor gerufen und soll exekutiert werden. Er verabschiedet sich schon von seinen Kameraden. Dietzsch sagt ihnen, dass es um drei Uhr geschehen solle. Die anderen wollen nicht aufgeben. Neue Verhandlungen mit Ding-Schuler. Er hat sein Wort gegeben, er muss etwas unternehmen.
    Ist er wirklich dreimal zum Lagerkommandanten Hermann Pister gegangen, um zu erbitten, dass er den Häftling mit der Spritze exekutieren kann? Oder hat sich Dietzsch geweigert, einen Schwerkranken zur Exekution freizugeben? Oder hat er gesagt, der sterbe sowieso, weshalb eine Kugel an ihn verschwenden? (Die Gefangenen hatten darum gebeten, nicht erhängt zu werden, wenn sie schon sterben müssten.)
    In Stéphane Hessels Erinnerung war es so: Um ein Uhr gibt Dietzsch Harry Peuleve eine Milchspritze. Harry bekommt sofort hohes Fieber und beginnt zu zittern. Dietzsch ruft den Oberarzt an, dass der Gefangene No. 8322 nicht zu seiner Hinrichtung kommen kann, da er durch einen wahrscheinlich tödlichen Typhusanfall ans Bett gefesselt ist. Bald darauf stirbt im Erdgeschoss der Franzose Marcel Seigneur. Unter Harrys Namen wird seine Leiche zum Krematorium geschickt, und Harry lebt unter dem Namen Seigneur weiter. Ahnen die Sterbenden, dass ihr Tod Leben rettet? Organspende der anderen Art: Weitergeben des Namens und, vorübergehend, der Identität.
    Als am 13. Oktober Maurice Chouquet stirbt, wird er unter dem Namen Ken Dodkin verbrannt. Die von den Häftlingen verwaltete Kartei verzeichnet es entsprechend. Übrig ist noch Stéphane Hessel. »Sein Toter« heißt Michel Boitel, der sich zu erholen scheint. Stéphane besucht ihn, spricht mit ihm, lernt ihn kennen, schließlich soll er dessen Rolle übernehmen. Michel Boitel ist gelernter Fräser, geboren 1923 in Amiens, also jünger als Stéphane, Student, ledig, spricht kein Deutsch. Stéphane spricht Deutsch, ist aber kein Handwerker. Die Lösung gefällt ihm plötzlich nicht mehr. In Kassibern an Eugen Kogon fragt er, ob stattdessen nicht eine Flucht möglich sei. Keine Chance, lautet die Antwort. »Hessel sehr krank«, notiert Balachowsky am 15. Oktober in sein Tagebuch, womit er meint: in großer Gefahr. Immerhin bittet Kogon in einer geheimen Mitteilung darum, dass beim Sterben der »nötigen Toten« nicht nachgeholfen werde.
    Tage vergehen. Stéphane denkt, dass der Tod unausweichlich ist, ganz nah, ganz leicht. Sein bisheriges Leben kommt ihm sehr oberflächlich vor, in einer Sphäre spielend, die er für immer verlassen wird, so oder so. Aber es wurmt ihn, dass er einige Dinge nicht hat geraderücken können, dass es Menschen gibt, die ein schlechtes Bild von ihm haben werden, dass er nun nichts mehr richtigstellen kann. Auf diese Weise erwachen bei ihm Eigenliebe und Überlebenswillen.
    Und schließlich stirbt Michel Boitel. Ob Dietzsch dabei nachgeholfen hat? Man wird es nie wissen. Stéphane Hessel wird als tot gemeldet, an Typhus verstorben, seine Karteikarte mit einem diagonalen Strich durchzogen. Der Sterbefall wird am 18. November 1944 vom Standesamt Weimar II beurkundet. Als offizielles Todesdatum ist angegeben Freitag, der 20. Oktober 1944 – Stéphanes 27. Geburtstag. Das Leben war ihm noch einmal geschenkt worden. Drei Tage später trifft sein Todesurteil aus Berlin ein. Triumphierend zeigt ihm Ding-Schuler das Dokument.
     
    Nur sechs Wochen ist Stéphane Hessel in Buchenwald gewesen, das erklärt, warum er noch bei Kräften ist. Auch die Zeit in der Typhusbaracke hat er gut überstanden. Nur kann er jetzt nicht im Lager bleiben, es muss dafür gesorgt werden, dass man den »Fräser Michel Boitel« (Häftlingsnummer 81   626) verlegt. Er und die beiden anderen überlebenden Namenswechsler werden am 1. November in andere Lager gebracht, allerdings nicht gemeinsam.
    Mit dem »Transport Julius« werden Hessel und Peuleve am 31. Oktober in das Außenlager Schönebeck an der Elbe verlegt, aber schon am 3. November kommt Hessel-Boitel nach Rottleberode, in das Lager Thyra, ein Außenlager des KZ Dora-Mittelbau. Rottleberode liegt etwa zehn Kilometer östlich von Nordhausen. In einer unterirdischen Fabrik für Flugzeugfahrgestelle der Junkers-Werke werden Häftlinge und Zwangsarbeiter eingesetzt. Stéphane haust in einem kleinen Lager mit 500 Gefangenen. In aller Frühe werden sie als marschierende Kolonne durch einen Wald gehetzt, müssen auf dem festgefrorenen Schotter auf eine Kleinbahn warten, die sie um fünf

Weitere Kostenlose Bücher