Sterben auf Italienisch - Ein Aurelio-Zen-Roman
geschrieben hatte. Er blickte auf die öde Straße hinaus, wo sich das junge Paar jetzt unter der Arkade des gegenüberliegenden Gebäudes in einem leidenschaftlichen Clinch befand. Es gab keinen Zweifel, Giorgio hatte ihn fallen gelassen. Er war ausgezahlt und entlassen worden und würde alle Konsequenzen aus der von ihm arrangierten Entführung selber tragen müssen. Kurz gesagt, Nicola Mantega befand sich in der verzweifeltsten Situation, in die ein Italiener überhaupt geraten kann. Er war auf sich gestellt.
21
Die vier Männer kamen kurz vor drei Uhr morgens zum Haus der Familie Nicastro. Ein schwarzer Jeep Grand Cherokee, dessen Nummernschilder entfernt worden waren, rollte im Freilauf leise die Hauptstraße hinunter und war in dem düsteren Licht der wenigen Straßenlampen, die an rechtwinkligen Haltern hingen, kaum zu erkennen. Mit ausgeschaltetem Motor und ohne Licht hielt das Fahrzeug gegenüber dem gedrungenen Haus aus Beton und gemauerten Terrakottaziegeln, die roh verputzt waren. Es war eine warme, windstille Nacht, und die Luft war von Gerüchen erfüllt, die der Wolkenbruch, der vor ein paar Stunden niedergegangen war, hervorgelockt hatte. Abgesehen vom Bellen eines Hundes irgendwo in der Nähe und einem gelegentlichen Donnergrollen weit im Norden über dem Monte Pollino war es absolut ruhig.
Ein Mann blieb im Wagen sitzen, die übrigen drei, die ihre Gesichter hinter schwarzen Sturmmasken verborgen hatten, gingen gemächlichen Schrittes auf ihr Ziel zu. Während einer von ihnen die Strom- und Telefonleitungen kappte, die an der Hauswand entlangliefen, knackte ein anderer das Schloss in der Eingangstür. Allerdings stellte sich dann heraus, dass die Tür außerdem verriegelt war, was den dritten Mann so sehr erzürnte, dass er die anderen mit lauter Stimme anfuhr, sie sollten sich beeilen. Dann lenkte das Quietschen eines offenen Fensterladens den Blick der Männer zur oberen Etage des Hauses auf der anderen Straßenseite, wo eine alte Frau sie vom Fenster aus beobachtete.
»Geh wieder ins Bett, nonna !«, rief der Mann.
Da das Überraschungsmoment nun ohnehin verspielt war, befestigte derjenige, der die Strom- und Telefonleitungen durchtrennt hatte, auf der Seite, wo die Angeln waren, drei kleine Ladungen Plastiksprengstoff oben, in der Mitte und unten am Türrand und zwirbelte die Drähte zusammen. Dann gesellte er sich zu seinen Komplizen, die in kurzer Entfernung vom Haus warteten. Sobald die Ladungen losgegangen waren, liefen alle drei zurück, traten die Tür ein und eilten ins Haus. Die starken Lichtkegel der Taschenlampen, mit denen sie vor sich herleuchteten, zerteilten die Dunkelheit wie Skalpelle.
In weniger als zwei Minuten hatten sie jeden Raum des Hauses durchsucht. Der einzige Bewohner, der Widerstand leistete, war Antonio, das fünfzigjährige Oberhaupt der Familie. Er wurde mit einem Pistolenschuss in die linke Kniescheibe wehrlos gemacht und bewusstlos geschlagen. Die Operation verlief dann wie geplant und ohne weitere Unterbrechungen. Die Mutter, der älteste Sohn und die beiden Töchter wurden in eines der Schlafzimmer gesperrt, und danach nahmen sich die Eindringlinge Francesco Nicastro vor. Er hatte überhaupt nicht den Versuch gemacht, zu protestieren oder sich zu wehren. Er sah sogar immer noch ziemlich schläfrig und traumverloren aus. Der Mann, der zuvor mit zorniger Stimme gesprochen hatte, streckte ihn mit einem heftigen Schlag ins Gesicht nieder, dann packte er ihn wie einen Sack Gerste und warf ihn aufs Bett. Er zwang ihm den Mund auf und verkeilte die Zähne auf beiden Seiten mit Gummistücken, die aus einem alten Traktorreifen geschnitten worden waren. Einer der beiden anderen Männer packte die Zunge des Jungen fest mit einer Zange, während der Anführer mit einer Rasierklinge ein Stück davon abschnitt. Dann polterten die drei wieder die Treppe hinunter, stiegen in den Jeep und fuhren davon.
Auf der anderen Straßenseite versuchte Maria, die gellenden Schreie, die aus dem Haus der Nicastros drangen, zu ignorieren. Das Wissen, dass sich ihre schlimmen Ahnungen erfüllt hatten, schenkte ihr keinen Trost. Ihre Gebete waren machtlos gewesen, sie selbst war machtlos, sie alle waren machtlos. Mit langsamen, schmerzhaften Schritten ging sie die Treppe hinunter ins Wohnzimmer, wo sich das einzige Telefon im Haus befand.
»Schicken Sie sofort einen Krankenwagen«, erklärte Maria dem Mann vom Notdienst. »Es hat einen schrecklichen Unfall gegeben.«
22
Martin Nguyens
Weitere Kostenlose Bücher
Die vierte Zeugin Online Lesen
von
Tanja u.a. Kinkel
,
Oliver Pötzsch
,
Martina André
,
Peter Prange
,
Titus Müller
,
Heike Koschyk
,
Lena Falkenhagen
,
Alf Leue
,
Caren Benedikt
,
Ulf Schiewe
,
Marlene Klaus
,
Katrin Burseg