Sterben auf Italienisch - Ein Aurelio-Zen-Roman
anderes.
Seit Jahren schon lebte Zen in einer Welt, in der der Realität anscheinend jede Substanz entzogen worden war. Früher einmal, und er konnte sich an diese Zeiten noch erinnern, war authentisches Erleben das Normale gewesen, der vorgegebene Standard, etwas, das ebenso wenig bemerkenswert war wie die Schwerkraft oder das Wetter. Heutzutage jedoch stimmte das Authentische eine melancholische Blue Note an, während es sich allmählich zurückzog, als wollte es uns traurig zum Abschied zuwinken, ein Doppler-Effekt, der durch die rasanten Veränderungen in der Gesellschaft ausgelöst wurde. Es gab allerdings immer noch Ausnahmen von dieser generellen Regel. Zen hatte die Erfahrung gemacht, dass man sich auf dem Weg von Rom nach Cosenza alle zehn Kilometer ein Jahr zurück in die Vergangenheit bewegte, bis man schließlich in der Mitte der fünfziger Jahre ankam. Authentizität war hier noch nicht ernsthaft bedroht, und in einer Weise, die er nicht hätte erklären können, verschob das auch das ethische Gleichgewicht. Was anderswo durchaus akzeptabel gewesen wäre, ging hier in diesem übrig gebliebenen Reich der Realität einfach nicht.
Die Chirurgen im Krankenhaus von Cosenza versuchten gerade, Francesco Nicastros abgeschnittene Zungenspitze wieder anzunähen, doch es war fraglich, ob er je wieder etwas damit spüren oder eine Kontrolle darüber haben würde. Sein Vater Antonio, der alleinige Brotverdiener in der Familie, wartete auf den Termin für eine Operation, die sein Knie wiederherstellen sollte, doch es war unwahrscheinlich, dass er jemals wieder arbeiten könnte. Kurz gesagt, egal wie der Fall ausging, die Familie war ruiniert. Zen hatte eine Stunde lang die beiden Kriminalbeamten vernommen, die das Gespräch mit dem Jungen geführt hatten, doch sowohl Corti als auch Caricato schworen, dass Francesco allein verhört worden war und dass sie niemandem außer ihren unmittelbaren Vorgesetzten etwas vom Ausgang des Gesprächs berichtet hatten. Zen glaubte ihnen schließlich, aber irgendjemand musste geredet haben. Insgeheim neigte Zen zu der Ansicht, dass Francescos Bruder es vielleicht einem Freund gegenüber erwähnt hatte. Vielleicht hatte er es in aller Unschuld dem dritten Jungen erzählt, der in der Nähe des Pfades gespielt hatte, als il morto auftauchte, nur um zu zeigen, was für ein Idiot sein Bruder war, und so seinen eigenen Status zu verbessern.
Natale Arnone kam mit einem weiteren Kaffee und etwas Gebäck herein. Er teilte Zen mit, dass die beiden Amerikaner, die an diesem Morgen vorbeikommen sollten, seit einer halben Stunde da waren, und fügte hinzu, dass der Ältere von beiden offenbar nicht allzu glücklich darüber war, dass man ihn warten ließ.
»Ach ja, und Signor Mantega hat letzte Nacht wieder telefoniert. Vom selben öffentlichen Telefon aus wie das letzte Mal, das allerdings jetzt abgehört wird. Zwei Anrufe. Der erste war eine Handynummer, wo sich niemand meldete. Der zweite Anruf ging an einen Festnetzanschluss, der zu einem Haus in San Giovanni in Fiore gehört.«
Zen blickte müde auf. »Und?«
»Ein Mann meldete sich. Mantega fragte, ob er einen gewissen Giorgio sprechen könnte. Der Mann hat gesagt, er kenne keinen Giorgio. Mantega hinterließ die Nachricht, dass Giorgio ihn zurückrufen solle. Möchten Sie, dass in der Sache etwas unternommen wird?«
»Nun ja, die beiden Nummern sollten natürlich ebenfalls auf die Überwachungsliste.«
»Ist bereits geschehen.«
»Wem gehört das Haus?«
»Dionisio Carduzzi, achtundsechzig Jahre alt, ehemaliger Tischler, nicht vorbestraft.«
Zen seufzte. »Okay. Lassen Sie das Haus beobachten, aber unauffällig. Hören Sie mal, ob die Jungs von Digos nicht irgendwelche Reparaturarbeiten an den öffentlichen Leitungen inszenieren können, für die sie in der Nähe von dem Haus die Straße aufreißen müssen. Sie sollen jeden aufschreiben, der kommt oder geht, und wenn möglich auch fotografieren, Kraftfahrzeugkennzeichen festhalten und so weiter. Aber sagen Sie ihnen, sie sollen im Zweifelsfall lieber vorsichtig sein. Ich möchte nicht, dass noch weitere Unschuldige verstümmelt werden. Nach dem zu urteilen, was letzte Nacht passiert ist, ist dieser Giorgio ein rücksichtsloser Sadist und offensichtlich nervös. Und nach meiner Pressekonferenz heute am späteren Vormittag wird er noch nervöser sein.«
Zen schob den Stapel Papiere auf seinem Schreibtisch beiseite und telefonierte kurz mit dem Pathologen, der die Autopsie der am
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