Sterben auf Italienisch - Ein Aurelio-Zen-Roman
alle Frauen in der Gemeinde offensichtlich die gleiche Idee gehabt, denn die Kirche war bei der Abendmesse sehr viel voller als sonst. Da der Priester die vorherrschende Stimmung spürte und vielleicht selbst gespannt war, das Neueste zu erfahren, zog er den Gottesdienst in flottem Tempo durch, ließ die Moralpredigt aus und hielt die Lesungen kurz.
In dem Moment, wo die Gemeinde entlassen wurde, kamen alle sofort zur eigentlichen Sache. Viele hatten bereits Gelegenheit gehabt, im Rahmen ihrer täglichen Arbeit, beim Besuch von Freundinnen oder beim Einkaufen in den Geschäften die Angelegenheit ein wenig zu sondieren. Nun war es an der Zeit, Clübchen zu bilden, Informationen auszutauschen, das Beweismaterial zu sichten und den Zwischenbericht grob zu entwerfen, den sie später ihren jeweiligen Familien liefern würden. Lebhafte Diskussionen wurden sowohl in der Kirche selbst als auch draußen auf den Treppenstufen sowie auf der Straße geführt, jeweils in kleinen Gruppen, die sich immer wieder neu formierten, um ihre Ergebnisse zum Vergleich an andere weiterzugeben oder zur Debatte zu stellen. Nach etwa zwanzig Minuten bildete sich allmählich ein Konsens heraus.
Sowohl die Fernsehnachrichten als auch die Lokalzeitung hatten bestätigt, dass es sich bei dem Ermordeten, der nach seinem Verschwinden zunächst als Gast aus Amerika bezeichnet worden war, tatsächlich um einen Angehörigen der Familie Calopezzati handelte, die fast zweihundert Jahre lang über diesen Teil Kalabriens wie über einen Feudalbesitz geherrscht hatte. Die Erinnerung an deren Verbrechen und Niederträchtigkeiten war bei der älteren Generation noch frisch, und es bestand allgemein Übereinstimmung darüber, dass es hart, aber gerecht war, dass man diesen Pietro Ottavio, der offensichtlich der uneheliche Sohn der baronessa Ottavia gewesen war, als Strafe für die Missetaten seiner Vorfahren zu einem symbolträchtigen schmachvollen Tod vor der ehemaligen Festung der Familie verurteilt hatte.
Uneinigkeit hingegen herrschte über die Bestrafung von Francesco Nicastro. Einige waren der Meinung, dass er sie verdient hatte, weil er Informationen an die Polizei weitergegeben hatte. Regeln waren Regeln, und die mussten durchgesetzt werden, wenn nötig auch auf brutale Weise, wenn die Gemeinde angesichts der noch brutaleren Unterdrückung, der die Region seit undenklichen Zeiten unterworfen war, überleben wollte. Andere argumentierten, dass Jungen wie Francesco zu modern waren, um die alten Gepflogenheiten zu verstehen, und fügten hinzu, dass er keinen wirklichen Schaden angerichtet habe, als er das parkende Auto des Opfers erwähnte, und vor allem, dass die Strafe unverhältnismäßig hart gewesen sei. Einige wenige wagten sogar zu behaupten, dass der Zwischenfall ein Beweis für die anhaltenden Gerüchte sei, dass »er« abhängig von den Drogen geworden wäre, mit denen er handelte, und nun in den Wahnsinn abgeglitten sei. Doch die Folgerungen aus dieser Möglichkeit waren so beunruhigend, dass sie von der Mehrheit als Unsinn abgetan wurde.
Aufgrund ihres Wesens wie auch ihrer Erziehung hörte Maria eher zu, als dass sie redete, besonders wenn es um die Familie Calopezzati ging. Tatsächlich war ihr der Name seit fast fünfzig Jahren nicht mehr über die Lippen gekommen, und weder ihren Worten noch ihrem Verhalten war anzumerken, dass er für sie mehr bedeutete als für alle anderen anwesenden Frauen. Sie bewegte sich von Gruppe zu Gruppe, nickte oder schüttelte den Kopf, mimte den angemessen rechtschaffenen Zorn oder resignierte Missbilligung. Nachdem sie alle zur Disposition stehenden Fakten,
Theorien, Gerüchte und Meinungen herausbekommen hatte, verschwand sie nach Hause und schloss sich in ihrem Zimmer ein. Als sie eine Stunde später zum Abendessen erschien, schockierte sie die gesamte Familie mit der Mitteilung, sie würde am nächsten Tag in die Stadt fahren. Eine der Frauen in der Kirche hätte ihr etwas von einem neuen Medikament gegen Arthritis erzählt, das es jetzt gebe, aber man müsse dafür zu einem bestimmten Arzt im Krankenhaus gehen, weil es nur in ganz besonderen Fällen verschrieben würde.
Marias Sohn bot an, sie zu fahren, doch sie erklärte, sie würde lieber den Bus nehmen. Das sei entspannender, und man brauche sich keine Gedanken wegen der Parkerei zu machen. Darauf versuchte ihre Schwiegertochter, die in der Ehe die Hosen anhatte, sich einzumischen, schoss aber wie immer weit über das Ziel hinaus, indem sie es
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