Sterben auf Italienisch - Ein Aurelio-Zen-Roman
so darstellte, als wäre ihre suocera eine senile alte Närrin, die man nicht aus dem Haus lassen, geschweige denn auf den gefährlichen Straßen von Cosenza frei herumlaufen lassen dürfe. Maria wartete, bis sie ihren Redeschwall beendet hatte, dann sagte sie: »Ich fahre morgen in die Stadt, und zwar allein, und damit basta.«
Alle wussten, dass es sinnlos war, mit Maria zu diskutieren, wenn sie in diesem Tonfall sprach. Außerdem machten sich die Eltern größere Sorgen um ihren Sohn Sabatino, der sein Essen kaum angerührt hatte und ausdruckslos an die Wand starrte, als ob er seine Umwelt gar nicht wahrnehmen würde. Francesco Nicastro war sein bester Freund. Sie hatten an dem Tag, an dem der tote Mann erschien, zusammen in dem verkümmerten Wald gespielt. Maria stand auf und erklärte, sie würde früh zu Bett gehen, damit sie morgen richtig ausgeschlafen wäre.
In ihrem Zimmer zog sie sich tatsächlich aus, doch dann legte sie sich auf die Bettdecke und blickte abwechselnd auf das Heiligenbild an der Wand und in die drohende Unendlichkeit der schattenhaften Decke über ihr. Die Jungfrau war nicht in der Lage gewesen, ihr in dieser Sache zu helfen, also musste Maria sich selber helfen und damit ihnen allen. Um sich hatte sie keine Angst, doch sie wusste, wie die Sorte von Männern, die der Dorfgemeinschaft dieses Unglück zugefügt hatten, vorging, besonders wenn an den Gerüchten, dass ihr Anführer von Dämonen besessen sei, etwas Wahres dran war. Egal was passierte, ihr Sohn, seine Frau und Sabatino mussten beschützt werden. Sie würde vor, während und nach ihrem Ausflug strikte Vorsichtsmaßnahmen ergreifen müssen, ihre Gedanken immer beisammenhalten und nichts bei sich tragen, woran man sie identifizieren könnte, wenn etwas schiefging.
Vor allem musste sie entscheiden, was sie sagen wollte und wie sie es sagen wollte. Nachdem sie so viele Jahre geschwiegen hatte, dass sie geglaubt hatte, das würde bis zu ihrem Tod so bleiben, war es fast unmöglich, sich vorzustellen, wie man die Worte wählte und die Sätze bildete, die diese ganze Angelegenheit zum ersten Mal ans Licht bringen würden. Außerdem könnte es gut sein, dass man ihr nicht glaubte. Die Geschichte, die sie zu erzählen hatte, war nämlich genau das, eine Geschichte. Sie konnte nicht beweisen, dass sie wahr war, noch irgendwelche Beweise oder Zeugen beibringen, die sie bestätigten. Maria hatte den neuen Polizeichef im Fernsehen gesehen, und er sah aus wie jemand, mit dem man reden konnte, aber das könnte auch nur sein öffentliches Auftreten gewesen sein, so wie er sich vor der Kamera und den Leuten von der Presse verhielt. In einem persönlichen Gespräch könnte er sich genauso gut als der übliche arrogante Mistkerl entpuppen, der ihre Aussage als Fantastereien einer verrückten alten Frau abtat.
Doch nichts von alldem konnte sie von ihrem Entschluss abbringen, genauso wenig wie das undurchdringliche Schweigen Gottes, die müßige Geste seines Sohnes und das ohnmächtige Leiden der Mutter Gottes sie davon abhielten, zu beten oder in die Kirche zu gehen. Sowohl die Götter als auch die Polizei waren launisch und rachsüchtig wie die Menschen, über die sie herrschten, doch ab und zu könnte es einem ja mal gelingen, ihre Aufmerksamkeit zu erlangen und für jemanden ein gutes Wort einzulegen. Doch zunächst musste man sich dieser Mühe unterziehen. Es mochte vielleicht nicht ausreichen, aber wenn man irgendein Gefühl für Anstand hatte, musste man es tun. Man musste bereit sein, zu fragen, zu bitten, zu flehen und vor ihnen zu kriechen. Das war alles machbar, und Maria war entschlossen, es auch zu tun.
27
Als die Papiere am frühen Abend auf Zens Schreibtisch landeten, galt seine erste Reaktion nicht deren Inhalt, sondern der Art, wie sie kamen. Unter dem Briefkopf des US-Konsulats in Neapel begann das erste Blatt mit der Standardklausel, dass »diese Nachricht potenziell vertrauliches Material enthält« und deshalb in willkürlich aufeinanderfolgenden Abschnitten per Fax geschickt werde, da zwischen den betroffenen Behörden »keine gegenseitig vereinbarten Verschlüsselungsprotokolle« existierten und die Verwendung von E-Mail deshalb ein »bilaterales Sicherheitsrisiko« dargestellt hätte.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie wir die ersten Faxgeräte im Büro bekamen, dachte Zen. Damals war das etwas Supermodernes, ein Statussymbol. Wenn man kein solches Gerät hatte, war man nicht wichtig. Nun waren diese Dinger praktisch
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