Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
mir so schlechtging, ginge es auch dem Krebs an den Kragen. Uns war wichtig, dass da kein Raum für Angstphantasien blieb, die bei Kindern oft viel schlimmer sein können als die Wirklichkeit. »Bin ich schuld, Mama«, hat mein Achtjähriger einmal gefragt, »bist du krank, weil ich böse war?« Seinem Verständnis nach musste es einen kausalen Zusammenhang für meine Krebserkrankung geben, irgendjemand musste doch verantwortlich dafür sein. Manchmal legte er sich, wenn es mir schlechtging, einfach zu mir ins Bett, und dann redeten wir darüber, dass eine schlimme Krankheit jeden treffen kann, selbst den nettesten Menschen.
Aber auch ich stellte mir die Frage nach der Schuld, nach meiner Schuld: Warum war ich krank geworden? Hatte ich etwas falsch gemacht? Diese Fragen quälten mich Tag und Nacht. Der Knoten, die Metastasen bestimmten mein Denken. Alles drehte sich um die Krankheit: Operation, Chemo-, Strahlentherapie. Irgendwann, während die Therapiemühle so vor sich hin mahlte, las mir mein Arzt die Leviten: »Frau Conrad«, sagte er, »kämpfen Sie nicht so verbissen gegen Ihre Angst, sehen Sie sie als Ratgeber, folgen Sie ihr.«
Und er hatte recht. Als ich mir meine Ängste näher anschaute und mich fragte, wovor genau ich mich eigentlich fürchtete und warum, waren sie keine Gegner mehr.
Da war zum Beispiel die schreckliche Furcht, der Krebs könnte bereits in andere Organe oder die Knochen gestreut haben. Plötzlich schmerzten der Oberschenkel und das Knie, und ich war sicher: Das sind Metastasen. Ich wollte meinem Mann zuerst gar nichts davon erzählen, wollte ihn nicht beunruhigen und machte mir gleichzeitig unendlich viele Sorgen: Was wäre, wenn das Knochenszintigramm verdächtige Stellen zeigen würde? Hätte ich dann überhaupt noch eine Chance? Irgendwie hatte ich das Gefühl, darüber zu reden, meine Ängste zu benennen würde die Gefahr noch viel realer machen. Aber das Gegenteil war der Fall: »Du machst den dritten Schritt vor dem ersten«, erklärte mein Mann, als ich ihm doch von meinen Befürchtungen erzählte. »Was Knochenmetastasen bedeuten, darüber machen wir uns Gedanken, wenn wir wissen, dass du welche hast.« Ich brauchte also Klarheit, und von dem Moment an, als mein Arzt mir sagte, dass die Untersuchung noch nicht einmal den Hauch eines Verdachts ergeben hatte, waren die Schmerzen wie weggeblasen.
Ich merkte: Das beste und wirksamste Mittel gegen die Angst ist Wissen. Sobald ich weiß, was mit mir passiert, was in meinem Körper geschieht, warum sich meine Seele so verknotet, desto weniger wird die Angst. »Die Angst ist verschwunden, wenn man ihr die volle Aufmerksamkeit gewidmet hat«, sagt der indische Philosoph Jiddu Krishnamurti.
Wenn das Hinterfragen und Verstehen also der Schlüssel ist, unsere Angst vor dem Tod zu besiegen, dann sollten wir uns genauer ansehen, was wir im Zusammenhang mit Tod und Sterben wirklich fürchten. Das mag bei jedem etwas anderes sein, bei vielen Menschen dürften aber, wenn nicht alle, dann vielleicht doch einige der folgenden Punkte auf ihrer persönlichen Liste stehen:
Die Angst, Wichtiges nicht erledigt zu haben
Kein sinnvolles Leben gelebt zu haben
Keine Spuren zu hinterlassen
Schmerzen zu haben
Die Würde zu verlieren
Allein sterben zu müssen
Geliebte Menschen zurücklassen zu müssen
Für immer ausgelöscht zu sein
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es hilft, die eigenen Ängste näher anzuschauen und sie in Fragen zu verwandeln. Denn dann können wir nach Antworten suchen.
Vom Sinn des Lebens
Weißt du, was in dieser Welt
Mir am meisten wohlgefällt?
Dass die Zeit sich selbst verzehret
Und die Welt nicht ewig währet.
Friedrich von Logau
Warum muss ich sterben? Warum jetzt? Warum habe ich nicht mehr Zeit? Warum wird mir ein geliebter Mensch genommen, den ich doch noch brauche? Das sind Fragen, mit denen wir uns in der Begegnung mit dem Tod konfrontiert sehen – wenn ein geliebter Mensch stirbt oder im Augenblick einer Diagnose, die keine oder kaum noch Hoffnung lässt. Als ich mich mit der Möglichkeit vertraut machen musste, vielleicht nicht mehr lange zu leben, fragte auch ich mich: Warum ausgerechnet ich? Und warum so früh? Die Kinder brauchten mich noch, ich konnte sie doch nicht alleine lassen! Ich hatte noch so viel vor, noch so vieles zu erledigen, ich war doch längst nicht fertig mit meinem Leben! Ich war 43, verdammt noch mal, das ist doch kein Alter zum Sterben.
Aber gibt es das »richtige« Alter? Natürlich
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