Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
fand die Vorstellung faszinierend! Ich würde nichts verpassen, müsste nicht über die Zukunft rätseln müssen, denn ich würde sie ja selbst erleben und hätte immer alle bei mir, die mir wichtig wären. Ich könnte jeden Ort der Welt besuchen und all die Berufe, von denen ich träumte, einmal ausprobieren, müsste mich nie entscheiden und würde irgendwann alles perfekt beherrschen.
»Und dann?«, warf meine Mutter ein. Selbst wenn ich auf diese Weise ein paar Jahrhunderte sinnvoll herumgebracht hätte, was würde ich dann mit den Millionen von Jahren anfangen, die noch vor mir lägen? Ewiges Leben hieße doch auch ewige Wiederholung und damit ewige Langeweile.
Ich begann zu grübeln. Hätte man tatsächlich Freude daran, alles wieder und wieder zu durchleben? Alles würde inflationär, kein Ereignis hätte für sich genommen noch eine Bedeutung, nichts wäre mehr besonders, sondern zigmal da gewesen, alles würde untergehen, mitgerissen vom Strom des ewig Gleichen. Natürlich würde es einige spannende Neuerungen geben, ScienceFiction im Alltag sozusagen – aber wären wir dem auch gewachsen? Und was hieße das für unsere Beziehungen? Relativ rasch würde man doch den Überblick nicht nur über Liebschaften, sondern auch über all die Enkel, Urenkel und Urururenkel verlieren.
Das Ergebnis unseres Gedankenspiels war schließlich, dass das Leben vor allem dadurch kostbar wird, dass eben nicht alles wiederholbar, sondern einzigartig, weil vergänglich ist. Das ewige Leben wäre eines ohne Ziele, ohne Perspektiven. Wir hätten keine Visionen mehr, bräuchten keine Entscheidungen zu treffen, könnten alles nicht nur auf morgen, sondern gleich aufs nächste Jahrtausend, ja auf den Sanktnimmerleinstag verschieben. Wir würden uns zu Tode langweilen und wären irgendwann des Lebens müde.
Saturn, der römische Gott der Zeit und der Dauer, riet seinem Sohn Chiron der Mythologie nach deshalb davon ab, sich Unsterblichkeit zu wünschen: »Du brauchst dir nur zu überlegen, wie viel härter und unerträglicher ein Leben, das niemals ein Ende nähme, für die Menschen sein müsste … Hätten sie den Tod nicht, so würden sie mich dauernd verfluchen, dass ich ihn ihnen vorenthalten hätte.« 5
Der Tod gibt allem erst Gewicht, er verhindert, dass wir uns in der Unendlichkeit von Möglichkeiten verzetteln, macht uns klar, was wirklich wichtig ist. Damit ist er »die wahrscheinlich beste Erfindung des Lebens«, wie Apple-Erfinder Steve Jobs 2005 in seiner berühmt gewordenen Rede vor Absolventen der Stanford University sagte: »Er ist der Erneuerer des Lebens, gestaltet den Wandel. Er schafft das Alte beiseite, um Platz für Neues zu machen.« Damals hatte Jobs bereits Bekanntschaft mit dem Tod gemacht, ein Jahr zuvor war bei ihm Bauchspeicheldrüsenkrebs festgestellt worden. Sechs Jahre später ist er daran gestorben.
Der Tod ist nicht weniger als die Aufforderung, unser Leben zu nutzen, ihm einen Sinn zu geben und unsere Zeit nicht zu vergeuden, bevor wir irgendwann das »Alte« sind, das der Tod beiseiteräumt. »Carpe diem« heißt das bei Horaz, »nutze den Tag«. Clevere Marketing-Strategen haben diese Weisheit millionenfach auf Kaffeebechern, Schlüsselanhängern und T-Shirts verewigt. Aber, so strapaziert und malträtiert der Spruch inzwischen auch sein mag – er ist immer noch wahr. Wem die alte Sentenz trotzdem zu platt und abgegriffen ist, der kann sich an Leo Tolstoi halten: »Denke immer daran, dass es nur eine wichtige Zeit gibt: Heute. Hier. Jetzt.«
Alles – und zwar sofort
As sly as a fox, as strong as an ox
As fast as a hare, as brave as a bear
As free as a bird, as neat as a word
As quiet as a mouse, as big as a house
All I wanna be, all I wanna be, oh
All I wanna be is: EVERYTHING
Lenka, Everything at once
[So schlau wie ein Fuchs, so stark wie ein Ochs
So schnell wie ein Hase, so mutig wie ein Bär
So frei wie ein Vogel, so klar wie ein Wort
So still wie eine Maus, so groß wie ein Haus
Alles, was ich sein will, alles, was ich sein will, oh
Alles, was ich sein will ist: ALLES ]
»Fast fünfzig Jahre hab ich gehabt, und was habe ich damit gemacht?«, das fragte sich ein Freund, der zur gleichen Zeit wie ich an Krebs erkrankte, der wie ich eine Chemotherapie durchgestanden und es am Ende doch nicht geschafft hat. Er musste gehen, ich durfte bleiben. In der Konfrontation mit seinem eigenen Sterben stellte er alles in Frage, bewertete sein gesamtes Leben neu. Geld, Karriere, Einfluss, die
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