Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
bemühen wir in solchen Fällen alle gerne Statistiken zur Lebenserwartung, aber der Tod ist kein Beamter, er ist ein Anarchist, der sich nicht an Regeln hält. Wenigstens nicht an unsere. Wir sind daran gewöhnt, unser Leben – mehr oder weniger – unter Kontrolle zu haben, selbst darüber zu entscheiden, was wir grundsätzlich tun und was wir lassen wollen und vor allem unter welchen Umständen. Der Tod spielt da nicht mit, er kommt, wann er will. Er ist ein Eindringling, der sich ungefragt ins Private einmischt, sich Zugang zu unserem Leben verschafft, in dem er aber doch bitte nichts zu suchen hat. »Für mich ist jeder Tod Anlass zum Aufstand«, hat sich ein Bekannter mal empört. Den wollen wir nicht, gegen den begehren wir auf, der hat hier nichts verloren – Revolution!
Wir können gegen alles und jeden aufbegehren, mögen dabei auch Erfolg haben, gegen den Tod aber kommen wir nicht an. Mal taucht er ganz unvermittelt und plötzlich auf, als Schicksalsschlag, Unfall oder unerwartete schwere Krankheit. Ganz überwiegend trifft er uns am Ende eines langen Lebens. Selbst dann allerdings, das haben mir Pfleger, Hospizmitarbeiter und Ärzte erzählt, klagen Sterbende häufig: »Ach, wenn ich doch noch ein bisschen mehr Zeit hätte, nur ein paar Monate vielleicht oder ein Jahr.« Selbst Menschen, die ein hohes Alter erreicht haben, meinen, noch Dinge erledigen zu müssen, wünschen sich eine letzte Chance, um ihre Angelegenheiten und Beziehungen zu ordnen. Sie versuchen mit dem Tod zu verhandeln und Zeit zu schinden. Das ist kein neues, sondern ein uraltes Phänomen. Schon der alte Seneca machte sich Gedanken »über die Kürze des Lebens« und konnte beobachten: »Keiner hat etwas fertig, denn immer verschieben wir unsere Geschäfte auf die Zukunft«, aber »indem man das Leben verschiebt, eilt es vorüber« 3 .
Aber warum schieben wir das, was uns in der Konfrontation mit dem Tod plötzlich so wichtig erscheint, jahrelang vor uns her? Wie oft höre ich Freunde, Kollegen, Bekannte sagen: »Also, nächstes Jahr wird alles anders.« Oder: »Wenn die Kinder größer sind, wenn es im Job endlich rundläuft, wenn ich in Rente gehe … dann wandere ich über die Alpen. Dann nehme ich mir all die Bücher vor, die sich ungelesen im Regal stapeln. Dann gehe ich öfter ins Konzert, lerne endlich Italienisch oder lege den Rosengarten an, von dem ich schon immer geträumt habe.« Irgendwann eines fernen Tages, nur nicht heute. Es ist ein ewiges Vertagen und Verschieben, bis es zu spät ist. Für all die schönen Dinge, die man doch so gerne noch gemacht hätte, für ein klärendes Gespräch, dem man viel zu lange aus dem Weg gegangen ist, für einen wichtigen Brief, den man noch schreiben wollte, den einen Satz, der am Ende vielleicht ungesagt bleibt und doch so wichtig gewesen wäre.
Um Ausreden, warum es heute leider wieder nicht geklappt hat, auch morgen nicht, und auch nicht in zwei Jahren, sind wir selten verlegen. Irgendwas ist immer.
Eine Freundin hatte ihre Großmutter länger nicht besucht, obwohl es keine großen Umstände bereitet hätte, auf einen Sprung bei ihr vorbeizuschauen. Nur ein kleiner Umweg auf der Fahrt von der Arbeit nach Hause, keine zwanzig Minuten. Natürlich hätte sich das irgendwie in den Tagesablauf einbauen lassen. Aber immer war etwas dazwischengekommen. Eine Sitzung, eine Verabredung fürs Kino, der Pilates-Kurs, irgendwelche Erledigungen … Manchmal fühlte sie sich einfach auch nur zu müde und abgespannt. Ihre Mutter hatte ihr am Telefon mehrfach erzählt, dass es der Großmutter nicht besonders gutgehe, dass sie schwächer werde und nur noch im Bett liege. Mehrfach habe sie nach ihrer Enkelin gefragt. »Oma würde sich einfach freuen, dich wieder mal zu sehen.« Nach solchen Telefonaten nagte das schlechte Gewissen. Gleich morgen oder übermorgen fahre ich bei ihr vorbei – ganz bestimmt. Irgendwann, zwischen zwei vermeintlich unaufschiebbaren Terminen, starb die Großmutter meiner Freundin. Sie hat sie nicht mehr lebend gesehen. Bis heute hadert sie damit, wie sie so achtlos hatte sein können. Sie hat sich nie verziehen, sich nicht diese eine Stunde genommen zu haben, um noch einmal am Bett ihrer Großmutter zu sitzen und ihre Hand zu halten.
Keine Zeit! Das ist das Mantra unserer Tage und die Erklärung für so vieles, was unerledigt bleibt. Aber haben wir tatsächlich so wenig Zeit? Und wenn ja, warum gibt es dann ein Unsinns-Wort wie »Zeitvertreib«? Oder setzen wir
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