Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
einfach nur die falschen Prioritäten?
Nehmen wir ein Beispiel: das Fernsehen. Im Schnitt verbringen die Deutschen fast zehn Jahre ihres Lebens vor der Glotze. 2012 waren es rund 220 Minuten am Tag. Das sind 110 Stunden im Monat, rund 55 Tage im Jahr – und da sind die Stunden vor dem Computer, an der Spielkonsole oder im Internet noch nicht mit eingerechnet. Haben wir nichts Besseres mit unserer kostbaren Lebenszeit zu tun? Zumal eine australische Studie ergeben hat, dass langer Fernsehkonsum der Gesundheit genauso schadet wie Rauchen oder mangelnde Bewegung. Und im British Journal of Sports Medicine konnte man 2011 lesen, dass jede Stunde vor dem Fernseher unsere Lebenszeit verkürzt. Aber keiner scheint sich darum zu scheren, obwohl wir am Lebensende um jedes Jahr, jeden Monat, jede Stunde feilschen. Nicht jeder Fernsehabend ist »verlorene« Zeit. Verloren ist sie dann, wenn wir uns nur berieseln lassen, weil wir nichts mit uns anzufangen wissen, wenn wir die Zeit nicht nutzen, um zur Oma zu fahren, Rosen zu pflanzen, Italienisch zu lernen, die Alpen zu überqueren … Ist es nicht eigenartig, dass wir gerade wenn es um unsere Träume, unsere Bedürfnisse geht, unsere Pläne so leicht, ja fast leichtfertig auf die lange Bank schieben? So, als hätten wir ewig Zeit dafür?
Nur eine Frage der Zeit?
Man kann den Wert eines Lebens nicht
nach der Länge bemessen;
Er ist vom Inhalt abhängig.
Michel de Montaigne
Stellen wir die Frage einmal andersrum: Wäre alles einfacher und besser, wenn wir mehr oder gar unbegrenzt Zeit hätten? Würden wir dann alles unter einen Hut bekommen – oder die lange Bank doch nur wieder um ein paar Meter verlängern, dass noch mehr draufpasst? Würden wir unsere Zeit sinnvoller nutzen?
In der westlichen Welt gelingt es uns inzwischen, mit gesunder Ernährung, Sport und Anti-Aging-Maßnahmen, mit Kollagenen, Enzymen und Hormonen den Alterungsprozess immer weiter hinauszuzögern. Ein Sechzigjähriger war vor hundert Jahren noch in einer ganz anderen körperlichen Verfassung als ein Gleichaltriger heutzutage. Und noch viel wichtiger: Durch die medizinischen und pharmakologischen Entwicklungen der letzten anderthalb Jahrhunderte ist es gelungen, auch die Lebenszeit des Menschen deutlich zu verlängern. Mit ausgetüftelten Medikamenten mit komplizierten Wirkmechanismen, durch Apparate wie Herzschrittmacher und Dialysegeräte, durch Stammzellenforschung, die beschädigtes oder abgestorbenes Gewebe neu wachsen lassen kann, schlagen Wissenschaftler und Forscher immer mehr Zeit für uns heraus.
Das ewige Leben kann uns zwar (noch) keiner versprechen, aber eine Lebenszeit von 150 Jahren ist in absehbarer Zeit durchaus realistisch. Molekularbiologen auf der ganzen Welt arbeiten daran, den Tod hinauszuzögern. Wie alt ein Mensch wird, hängt – abgesehen von den Lebensumständen – unter anderem von der Länge seiner Chromosomen ab. Genauer gesagt, von ihren Endstücken, den Telomeren. Sie sind gewissermaßen die Schutzkappen unserer Chromosomen, wie die Plastikenden von Schnürsenkeln, die dafür sorgen, dass die Enden beim häufigen Gebrauch nicht allzu schnell ausfransen. In ihnen tickt die biologische Uhr der Zelle. Mit jeder Zellteilung aber verkürzen sich diese Telomere, und wenn sie aufgebraucht sind, kann die Zelle sich nicht mehr teilen. Ihre – und damit unsere – Lebensuhr ist abgelaufen. Wenn es gelingt, die Telomere vor Verschleiß zu schützen oder sie zu verlängern, dann könnte der Mensch länger, theoretisch sogar ewig leben.
Aber ist das wirklich erstrebenswert?
Der amerikanische Wissenschaftsjournalist David E. Duncan hat mehr als 30 000 Menschen dazu befragt, wie alt sie gerne werden würden, wenn sie es selbst bestimmen könnten. Zur Auswahl standen: 80, 120, 150 Jahre oder bis in alle Ewigkeit. Und siehe da: Eine klare Mehrheit von 58 Prozent war mit der Lebenserwartung von achtzig Jahren zufrieden, die heute im Durchschnitt in den westlichen Ländern erreicht wird. 29 Prozent konnten sich ein Alter von 120 Jahren vorstellen, 10 Prozent würden die 150 ausreizen wollen, aber nur 3 Prozent wünschten sich ein Leben ohne Tod. 4
Stellen wir uns dennoch einen Moment lang vor, wir könnten ewig leben. Mit meiner Mutter habe ich diesen Gedanken als Kind durchgespielt, als ich mich wieder einmal darüber beschwert hatte, dass wir alle sterben müssen. »Wie wäre das denn, wenn es keinen Tod gäbe?«, fragte sie. »Was würdest du mit der vielen Zeit tun?« Ich
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