Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
nicht mitten in der Nacht. Und weil mir die »Angscht« wohl deutlich anzusehen war, durfte ich ins Bett meiner Eltern kriechen, wo ich mich den Rest der Nacht gemütlich eingerichtet, tief geschlafen und offenbar so lebhaft geträumt habe, dass meine Eltern kein Auge mehr zutaten. Das hat mein Vater später oft erzählt.
Wovor ich nun genau Angst hatte, das konnte ich damals nicht sagen: vielleicht vor dem »Nachtkrapp«, von dem es hieß, dass er nachts umhergehe und Kinder fange, um sie aufzufressen. Das hatte ich im Kindergarten aufgeschnappt. Vielleicht war es auch einfach nur zu dunkel im Zimmer gewesen oder ich hatte Geräusche gehört, die ich nicht einordnen konnte – wer weiß. Was ich allerdings noch weiß, ist, dass die Angst ein häufiger Begleiter meiner Kindheit war, meist nachts, wenn die Gedanken kamen. Ich bin mir nicht sicher, wann das anfing, aber ich kann mich gut erinnern, wie ich, den Kopf ins Kissen gedrückt, meinen eigenen Herzschlag hörte wie ferne Schritte. Und dann begann das Nachdenken: über die Unendlichkeit, das Universum, das – unvorstellbar für mich – nirgendwo aufzuhören schien, und über die Zeit, die nie begonnen hatte und niemals enden würde. Welche Rolle spielte ich in dieser Ewigkeit? War mein Leben auf diesem Zeitstrahl so viel wie der Bruchteil einer Sekunde oder nur ein Bruchteil dieses Bruchteils oder gar nichts?
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Die Angst gehört zu unseren größten Feinden, wenn wir sie gewähren lassen. Sie kann aber zu einem zuverlässigen Freund und Ratgeber werden, wenn wir lernen, mit ihr umzugehen.
Etymologisch, also sprachgeschichtlich, ist das Wort »Angst« verwandt mit dem lateinischen angor, was übersetzt Würgen und Beklemmung heißt, und mit dem indogermanischen angh, was eng bedeutet. Tatsächlich erleben wir Angst häufig als etwas sehr Beklemmendes, ein Gefühl, auf das wir auch körperlich reagieren, mit rasendem Puls oder Enge in Brust und Hals, als würde uns jemand die Luft abschnüren.
Die Natur hat diesen Angst-Mechanismus gewissermaßen als Alarmanlage für uns eingerichtet. Es ist ein uralter Überlebensinstinkt, der uns hilft, in einer Gefahrensituation schnell zu reagieren, ohne groß nachdenken zu müssen. Vor Hunderttausenden von Jahren wurde Angst in unserem Gehirn mit drei Impulsen gekoppelt: angreifen, fliehen, tot stellen. Und auch wenn wir uns heute nur noch selten vor wilden Tieren oder Naturgewalten schützen müssen, reagiert unser Gehirn noch immer so, und das kann zu Fehlalarmen führen. Dann übernehmen biologische und chemische Prozesse die Regie. Kein Wunder, dass wir uns »starr vor Angst fühlen«, unter Schock stehen, nicht klar denken können.
Auch wenn keine akute Gefahr für Leib und Leben droht, kennen wir alle das Gefühl, dass Angst lähmen kann. Ich hatte als Kind vor allem Möglichen Angst: vor der Dunkelheit, seltsamen Schatten an der Wand oder vor der nächsten Lateinarbeit. Fast jeder kennt die Angst vor Prüfungen, vor Versagen und Blamage, das Gefühl, etwas nicht zu schaffen. Manche haben gute Gründe, sich vor der Zukunft zu fürchten, weil vielleicht ihr Arbeitsplatz auf dem Spiel steht, eine schwere Schuldenlast drückt oder die Gesundheit nicht mehr mitmacht. Wir alle haben Angst davor, Menschen, die wir lieben, zu verlieren, und Angst davor, allein zu sein. Wir sollten uns solchen Ängsten nicht widerstandslos hingeben, uns nicht in sie hineinfallen lassen wie in ein tiefes, dunkles Loch. Angst essen Seele auf heißt ein Film von Rainer Werner Fassbinder – treffender kann man kaum formulieren, was mit uns passiert, wenn uns die Angst verschlingt, wenn wir uns auf ihre dunkle Seite begeben.
Aber, so schreibt die Philosophin Rebecca Reinhard in ihrem klugen Buch Die Sinndiät: »Die Angst erinnert uns daran, was uns am wichtigsten ist – weil sie uns darauf hinweist, dass wir es verlieren können. (…) Wenn wir ihr keine Gelegenheit geben aufzutauchen, verlieren wir auf Dauer das Gespür dafür, was wirklich zählt.« 2
Angst kann also durchaus sinnvoll und hilfreich sein. Sie kann uns in extremen Situationen das Leben retten, im Alltag aber auch – wie das GPS im Auto – eine Art Navigator für uns sein. Und damit meine ich nicht, dass wir uns von Angst leiten und in unserer Handlungsfreiheit einschränken lassen, wie das bei schweren Phobien der Fall ist. Die Angst kann uns als Lotse aber auf den Weg des Fragens führen: Wovor habe ich Angst und warum?
Als ich vor über zehn Jahren eines Mittags in
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