Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
teuren Reisen um die halbe Welt, die schicken Hotels, die vielen Flugmeilen, die er gesammelt hatte – das alles hatte plötzlich keinen Wert mehr. Effektivität und Schnelligkeit, jahrelang die Eckpunkte seines beruflichen Erfolgs, waren mit einem Mal bedeutungslos. Ein echtes Privatleben hatte er nie gehabt und sich damit sogar noch gebrüstet. Seine Verzweiflung darüber, »falsch« gelebt und Wichtiges verpasst zu haben, schien bei ihm fast noch größer als seine Angst vor dem Tod.
Inzwischen weiß ich, dass es vielen Menschen ähnlich geht. Sie hatten von außen betrachtet ein gutes und erfolgreiches Leben. Die Parameter, die unsere Gesellschaft dafür anlegt, sind die, nach denen auch mein Freund gelebt hatte. Wir häufen Dinge an, setzen Erfolg und Geld mit Glück gleich, leben nach dem Prinzip schneller, besser, weiter. Und merken dabei nicht, dass wir einer Schimäre hinterherjagen. Bei meinem Freund kam diese Erkenntnis am Ende seines Lebens. Seine Bilanz war bitter, er quälte sich mit Selbstzweifeln und Vorwürfen.
Seine Frage, was er eigentlich aus seiner Lebenszeit gemacht hat, geht mir seither nicht mehr aus dem Kopf. Wie würde meine Bilanz ausfallen? Und hat sie sich in den Jahren seit meiner Diagnose geändert? Habe ich etwas daraus gelernt, die Krankheit als Wegweiser genutzt?
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Das amerikanische Wirtschaftsmagazin Forbes hat 2012 eine Liste der größten Versäumnisse zusammengestellt, die Menschen auf ihrem Sterbebett bereuen. 6
Dazu gehört auf Platz 1, auf Kosten von Familie und Freunden zu viel gearbeitet zu haben. Alle klagten, der Beruf habe zu großen Raum eingenommen, zu häufig hätte eine Rolle gespielt, was Vorgesetzte oder die Kollegen dachten, viel zu oft sei man für seinen Arbeitgeber erreichbar gewesen, hätte sich sogar die Nächte um die Ohren geschlagen. Erst jetzt sei ihnen klargeworden, dass es viel sinnvoller gewesen wäre, mehr Zeit mit dem Partner oder den Kindern zu verbringen, mit ihnen zu reden, Ausflüge zu machen oder ihnen etwas beizubringen. Auch Freundschaften seien oft viel zu kurz gekommen.
Wenn man den Schlussstrich unter das eigene Leben zieht und seine Endabrechnung macht, stellt man schnell fest, dass letztlich nicht die vielen Überstunden im Büro zählen, auch nicht all die Sitzungen, bei denen man nur körperlich anwesend war, oder die unzähligen, oft überflüssigen E-Mails, die doch nur belegen sollten: Ich bin am Ball. Für diejenigen, die sich die Frage nach dem Sinn am Ende stellen mussten, war die Antwort plötzlich klar. Zeit für andere und Zeit mit anderen, das war es, was am Schluss übrig blieb. Sie trauerten den vielen verpassten Gelegenheiten nach, machten sich Vorwürfe, die falschen Prioritäten gesetzt zu haben.
Ein anderer Punkt auf der Forbes-Liste war die Erkenntnis, dass man sich zu oft von Ängsten habe ausbremsen lassen: von der Angst zu scheitern, zu versagen, ausgelacht zu werden, andere zu verärgern. Weil ihnen der Mut gefehlt habe, seien eigene Träume und Wünsche auf der Strecke geblieben. Sie hätten Chancen nicht ergriffen oder seien vor Herausforderungen zurückgeschreckt – aus Angst vor Risiko und Veränderung. Viele mussten erkennen, dass sie nicht ihr eigenes Leben gelebt hatten, sondern eines, das andere, die Eltern beispielsweise, ihnen vorgegeben hätten.
Steve Jobs hat in seiner Rede in Stanford den Tod als hilfreichen Sparringspartner ins Spiel gebracht: »Die Erinnerung daran, dass ich bald tot sein werde, ist für mich das wichtigste Hilfsmittel, um große Entscheidungen in meinem Leben zu treffen. Weil fast alles – die Erwartungen anderer, Stolz, jegliche Angst vor Peinlichkeit oder Scheitern – angesichts des Todes verschwindet und nur übrig lässt, was wirklich wichtig ist. Die Erinnerung daran, dass du sterben wirst, ist der beste Weg, den ich kenne, um der Vorstellung zu entgehen, du hättest etwas zu verlieren.«
Wenn wir den Tod als eine Art Ratgeber sehen, dann kann er uns tatsächlich klarmachen, was wichtig ist. Und damit meine ich nicht: wichtig im Sinne anderer oder der Gesellschaft, sondern wichtig vor sich selbst. Wenn wir diesen Ratgeber nicht erst im Ernstfall »zur Hand nehmen«, sondern uns heute schon fragen würden: Bin ich zufrieden mit meinem Leben so wie es bisher war? Was sollte ich anders machen, will ich den Zug meines Lebens vielleicht auf neue Gleise setzen?
Auch bei mir war es aber der Ernstfall, die unvermittelte Krebsdiagnose, die mich hat innehalten lassen, die
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