Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
sein.
Ich habe gelernt, wie wichtig es ist, mit Menschen am Ende ihres Lebens über die Dinge zu reden, die sie tatsächlich bewegen. Und dass man die Entscheidung über den richtigen Zeitpunkt dem Sterbenden selbst überlassen sollte. Oft habe ich meinem Vater in der letzten Phase seiner Krebserkrankung angeboten, zu reden, weil ich selbst das Bedürfnis danach hatte. Häufig aber blockte er ab und erzählte mir stattdessen, was er gerade las. Manchmal hat mich das frustriert. Als es ihm dann schlechter ging und ich das Thema Tod lieber gemieden hätte, da forderte er mich plötzlich. Und das waren die besten Gespräche, die wir je hatten.
»Man sollte einen Sterbenden immer da abholen, wo er ist«, sagt auch die Hospizleiterin Barbara Schoppmann. »Wenn er oder sie äußert: ›Ich habe wohl nicht mehr lange zu leben‹, dann ist das die Einladung, über all das zu reden, was einem wichtig ist, offen und achtsam zu sein.« Man kann vielleicht sagen, was er oder sie einem bedeutet. Man kann an das erinnern, was besonders gut und schön war, und den Sterbenden entlasten, indem man ihm sagt, dass alles, was vielleicht nicht gut war, vergeben und vergessen ist. »Ist alles gut zwischen uns?«, hat mein Vater mich in den letzten Tagen vor seinem Tod immer wieder gefragt. Und ich konnte ihn beruhigen: Ja, alles war gut zwischen uns.
Manchmal befindet sich der Mensch, der dem Tod entgegengeht, aber auch gerade in einem Zustand der Leugnung und Verdrängung. Es bringt nichts, daran von außen etwas ändern zu wollen. Vielleicht ist diese sicher unbewusste Strategie für den Betroffenen die einzige Möglichkeit, um die Angst unter Kontrolle zu halten.
In den letzten Monaten vor seinem Tod hatten wir mit meinem Vater mehrfach darüber gesprochen, er solle zu uns ziehen, damit er uns immer in Rufweite hätte und auch nachts versorgt wäre. Er hatte sich aber bis zuletzt dagegen gewehrt, seine Unabhängigkeit nicht aufgeben wollen. Kurz vor seinem Tod, als er bereits im Krankenhaus lag und allen klar war, dass es zu Ende ging, da gab es ein, zwei Tage, in denen er auf einmal anfing, über den Umzug nachzudenken. Was mit seinen vielen Büchern passieren sollte, für die bei uns gar nicht genug Platz sei, und ob es vielleicht nötig würde, einen Treppenlift zu installieren, wenn er alleine nicht mehr ins obere Stockwerk käme. Die Situation war absurd, und ich wusste erst gar nicht, was ich dazu sagen sollte. Woher kam plötzlich dieser völlige Realitätsverlust? Aber dann verstand ich, dass er in diesem Moment seine ausweglose Situation gegen eine freundliche Phantasie tauschte, in der er vorübergehend offenbar Trost und Frieden fand, bevor er sich der Realität endgültig stellen konnte.
Und noch etwas habe ich am Sterbebett meines Vaters gelernt: Kurz vor dem Ende ziehen sich Sterbende in sich zurück. Er war zwar noch bei Bewusstsein, aber die Außenwelt hatte jede Bedeutung für ihn verloren. Die Zeitung, die er früher stundenlang gelesen hatte, interessierte ihn nicht mehr. Keine Politik, kein Sport, nicht der Patient im Bett nebenan. Er hatte sein Leben abgeschlossen, hatte sich von allen verabschiedet, die ihm nahestanden, und ihnen gesagt, was ihm wichtig war. Irgendwann wollte er einfach nur noch meine Hand halten und wissen, dass alles gut ist.
Ich weiß, dass sich in diesen letzten Tagen seine ganze Welt aufgelöst hat, dass er alles loslassen musste, was ihm jemals lieb und wert gewesen war, zuletzt seinen Körper, sein eigenes Ich. Es ist ein alles umfassender, überwältigender Verlust, die Summe aller Verluste, die man jemals im Leben ertragen musste. Die letzten Stunden, die ich bei ihm verbracht habe, gehören zu den kostbarsten meines Lebens, Lehrstunden von unschätzbarem Wert. Als ich am Bett meines sterbenden Vaters saß, wusste ich: Diesen Weg wirst du auch gehen müssen. Seine Unerschrockenheit im Angesicht des Todes macht mir heute noch jedes Mal Mut, wenn ich an mein eigenes Sterben denke.
Die Zeit, die ich ihn begleiten durfte, hat aber nicht nur meine Gedanken an Tod und Sterben, sondern auch den Blick auf das Leben verändert, ihn auf das für mich Wesentliche gelenkt. Es war die Gelegenheit, mit mir und meinen eigenen Wünschen und Vorstellungen auf Tuchfühlung zu gehen.
Das »Konzentrat von Leben«
Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen,
auf dass wir klug werden.
Psalm 90, 12
Jeder von uns hat im Laufe seines Lebens Tausende von Toten gesehen: in Filmen, Krimiserien, in den
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