Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
Fernsehnachrichten. Wir erinnern uns an die Schattengestalten, die am 11. September 2001 aus den Türmen des World Trade Centers fielen, und wussten: Das sind Menschen, die stürzen in diesem Augenblick in den sicheren Tod. Wir waren entsetzt und schockiert, aber haben wir ihr Sterben tatsächlich als wahr, als echt empfunden? Oder die Opfer der Tsunami-Katastrophen 2004 im Indischen Ozean und 2011 in Japan. Wir alle haben die Bilder dieser gewaltigen Flutwellen vor Augen, haben gesehen, wie Häuser und fahrende Autos mitgerissen wurden, und uns war klar: In diesen Häusern, in diesen Autos befinden sich Menschen, und sie haben keine Chance, zu entkommen. Auf manchen Videos haben wir Schreie und Rufen gehört, es war ein Horror. Aber dann haben wir uns wieder unserem Alltag zugewendet, haben gekocht, die Blumen gegossen, sind gejoggt – das Leben ging weiter, die Welt blieb nicht stehen.
Die Welt bleibt nie stehen, das Leben geht über alles hinweg. Es sei denn, wir sind direkt, ganz unmittelbar betroffen, der Tod geht uns an. Dann verdichtet sich plötzlich unser Erleben, dann empfinden wir, als stünde im Moment des Todes für einen Augenblick die Zeit still. Und im Mittelpunkt des Universums gibt es für ein paar Augenblicke nur diesen Menschen, der gerade gegangen ist.
Nach dem Tod ihres Kindes war meine Freundin Ursula in die Stadt gefahren, um einen schwarzen Mantel für die Beerdigung zu kaufen. Wie unsichtbar war sie durch die Straßen gelaufen, so als gäbe es sie gar nicht, nicht ihre Trauer, nicht diese Katastrophe, die ihr widerfahren war. Alles ging seinen unbeirrten Gang, die Welt drehte sich weiter. »Ich kam mir vor wie in einem Film«, beschreibt sie dieses Gefühl, nirgendwohin zu gehören, wie eine Zuschauerin auf dieses geschäftige Treiben zu schauen, in ihrer Verzweiflung ganz allein zu sein.
Wäre damals nicht noch ihr Sohn Marco gewesen, hätte Ursula vielleicht aufgegeben. Sie hatte das Schlimmste erlebt, das Eltern widerfahren kann. Am zweiten Weihnachtsfeiertag 2000 starb ihr Sohn. Julian war sechs Jahre alt. Er war gerade in die Schule gekommen, ein fröhliches, manchmal fast ungestümes Kind voller Lebensfreude. Trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Behinderung. Eine Stoffwechselkrankheit vermutlich, genau haben die Ärzte das nie feststellen können. Dass ihr Kind anders war als andere, das fanden die Eltern heraus, als Julian ein knappes Jahr alt war. Und als die Ärzte ihre Vermutung bestätigten, da hat diese neue Realität erst einmal alles ins Wanken gebracht. Sie schöpften wieder Hoffnung, als der Junge ganz allmählich zu sprechen begann und irgendwann sogar seine ersten vorsichtigen Schritte machte. Später, viel später als andere zwar, aber für die Familie waren solche Tage Freudentage, die Zuversicht gewann an Boden. »Irgendwie haben wir geglaubt, dass das schon wird«, erzählt Ursula. Sie und ihr Mann taten alles, um ihr Kind in seiner Entwicklung zu unterstützen, mit Therapien und Fördermaßnahmen, mit Spiel und unendlich viel Zuwendung. Dann kam ein Weihnachtsfest, an dem scheinbar alles zunichtegemacht wurde. Julian, damals vier, hatte einen schweren epileptischen Anfall. Danach konnte er nur noch den Kopf drehen, ein permanentes Zucken verkrampfte seine gesamte Muskulatur, er konnte noch ein bisschen sprechen, aber nur die Familie hat noch verstanden, was er sagen wollte. »Der Kopf war nach wie vor klar, er hat alles kapiert, alles mitbekommen – und er hat immer noch gelacht.« Wenn Ursula daran denkt, ist sie immer noch voller Staunen, wie ihr Kind das alles ertragen hat, ohne sich aufzugeben. Wie er sich der Welt immer noch voll Begeisterung und Neugier zuwandte. Aber nach diesem Weihnachten ging es ihm stetig schlechter, er wurde schwächer und schwächer. Im Kinderneurologischen Zentrum nahm ein Arzt Ursula eines Tages zur Seite: »Er hat mir klipp und klar gesagt, was auf uns zukommen würde, und zwar schon bald. Er war der Erste, der ganz ehrlich mit uns war. Ich war so dankbar, dass endlich einer Tacheles mit mir geredet hat. Die anderen Ärzte hatten immer hinterm Berg gehalten. Aber ich wollte endlich wissen, was uns erwartet, ich wollte die Wahrheit«, erzählt Ursula. Dieses Gespräch stürzte sie einerseits in tiefe Verzweiflung, gab ihr gleichzeitig aber auch die Möglichkeit, sich innerlich zu wappnen. Sie erfuhr, dass ihr Sohn nicht an seiner Behinderung sterben würde, sondern vermutlich an irgendeinem Infekt. Sein kleiner, geschwächter
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