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Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)

Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)

Titel: Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Conrad
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reagiere, weil ich weiß, dass es auf diese Kleinigkeiten nun wirklich nicht ankommt. Ein Blechschaden am Auto, ein verpasster Zug, ein Fleck auf dem Teppich, auf dem unser Hund sich mit Hingabe gewälzt hat – früher hätte mich das aufgeregt, vielleicht sogar aus der Fassung gebracht. Heute weiß ich: Davon geht die Welt nicht unter – da spare ich meine Kräfte lieber für echte Katastrophen.
    Leider ist das ein Zustand, der nicht permanent anhält. Natürlich kann ich mich immer noch oder wieder über Bagatellen aufregen, und das ist gut so. Denn wer will schon ständig abgeklärt durchs Leben gehen. Aber der Rahmen meines Lebens ist heute ein anderer. Spiritualität hat für mich neue Bedeutung gewonnen, und auch meine Haltung zu Sterben und Tod ist eine andere. Die Angst befällt mich jedes Mal wieder, wenn eine Nachsorge-Untersuchung ansteht. Aber ich habe gelernt, sie auszuhalten und sie als etwas Hilfreiches zu sehen. Jedes Mal, wenn der Arzt Entwarnung gibt, fühle ich eine enorme Erleichterung und habe wieder dieses Gefühl, das mir zwischendurch gelegentlich abhandenkommt: dieses Gefühl, dass das Leben ein großartiges Geschenk ist.
    Viele Frauen, die wie ich mit dieser oder einer anderen schweren Krankheit leben müssen, haben mir erzählt, dass sie ganz ähnlich empfinden. Sie lebe intensiver, hat mir eine Freundin gesagt, seit sie wisse, dass sie weniger Zeit als andere habe. Lebenslustiger sei sie geworden und sie würde nicht mehr so viel grübeln.
    *
    Bei einer fortgeschrittenen Krebserkrankung, die den Zeithorizont begrenzt, wird der Mensch nicht urplötzlich aus dem Leben gerissen. Der Tod nähert sich leise, schleicht sich an – wir wissen, dass er irgendwo lauert und dass wir ihm nicht entkommen. Deshalb bleibt Kranken, die ihr Ende kommen sehen, gar nichts anderes übrig, als sich diesem Gedanken zu stellen, sich mit ihm auseinanderzusetzen.
    Für meine Freundin Ava kam dieser Moment vor fünf Jahren. Monatelang hatte sie an Bauchschmerzen und Durchfällen gelitten, war auf Laktose-Intoleranz behandelt worden, hatte ihren Speiseplan umgestellt, Globuli und Tees probiert – nichts hatte geholfen. »Merkwürdig«, meinte sie später, »ich habe mich auf die Ärztin verlassen, weil ich einfach nicht wollte, dass es etwas Ernstes ist.« Tatsächlich war es sehr ernst. Seit bei ihr Darmkrebs diagnostiziert und befallene Lymphknoten im Bauchraum gefunden wurden, ist Ava achtmal operiert worden. Erst wurde ein Stück Darm, dann eine Niere samt Harnleiter, ein Eierstock und schließlich Teile der Lungen entfernt. Zwei Chemotherapien hat sie durchgestanden, mit unerträglichen Taubheitsgefühlen in Händen und Füßen, mit diesem entsetzlichen Geruch in der Nase und einer Mattigkeit, die ihr zeitweise jede Lebenskraft nahm. Schmerzen sind heute Teil ihres Alltags. Man kann sagen, dass die letzten Jahre eine echte Qual für sie waren. »Trotzdem«, versichert sie, »bin ich mit meinem Leben zufrieden – damit, wie es war und wie es heute ist. Ich habe alles so gemacht, wie ich wollte.«
    Vor mehr als 25 Jahren kam Ava nach Deutschland, sie ist froh, dass sie hier mit ihrem Mann und ihren Kindern in Freiheit leben kann. Es war nicht immer leicht, ihre große Familie in Afghanistan hat ihr manchmal sehr gefehlt. Aber sie empfindet es als ihren ganz persönlichen Sieg, als Genugtuung, dass sie nicht in ständiger Angst leben muss, in immerwährender Furcht vor Gewalt und religiösem Fanatismus. Auch ihre Kinder müssen sich vor niemandem verstecken, können ihre Gedanken frei äußern, und vor allem die Mädchen müssen nicht das Gefühl haben, Menschen zweiter Klasse zu sein, sie müssen kein Doppelleben führen – ein öffentliches und ein privates – wie so viele Frauen in ihrer Heimat. »Dass ich meinen Kindern das ermöglicht habe, das macht mich stolz«, sagt Ava. »Mehr hätte ich für mich und für sie nicht erreichen können.«
    Ihr Leben hat sich seit der Diagnose grundlegend verändert. Das fängt schon damit an, dass sie nichts mehr planen kann. Sie lebt in Segmenten, sagt sie, in Drei-Monats-Intervallen. Die Kontrolluntersuchungen alle zwölf Wochen geben ihr den Lebensrhythmus vor, schicken sie auf eine Achterbahnfahrt zwischen Hoffen und Bangen, neuen Schreckensmeldungen oder Entwarnung. Haben die Ärzte nichts gefunden, lebt sie auf, fühlt neue Kraft, die Zuversicht kehrt zurück. Aber gegen Ende der Frist kommt die Verzweiflung wieder, die Anspannung, die Niedergeschlagenheit, und

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