Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
alles beginnt von vorn.
Aufgegeben hat Ava trotzdem nicht. Den meisten Auftrieb gibt ihr die Familie, sie hat ihr immer das Gefühl gegeben, dass es sich lohnt, durchzuhalten. »Ich bin realistisch«, meint sie, »ich weiß, dass es bald vorbei sein kann. Aber ich genieße die Zeit, die ich habe, so lange ich sie habe. Sie ist wertvoller geworden.« Dass sie keine Pläne mehr schmieden kann, ist in Ordnung für Ava. Warum Zeit mit etwas verbringen, das vielleicht sowieso nicht mehr passiert. Sie konzentriert sich auf die Gegenwart, auf das Hier und Jetzt, nimmt vieles leichter als früher, macht sich um Kleinigkeiten keinen Kopf mehr, weil sie weiß, dass es Schlimmeres gibt. Natürlich fällt auch sie manchmal zurück in den alten Trott, aber immer nur, bis die nächste Kernspin-Untersuchung näher kommt. Dann plötzlich zählt für sie wieder jeder Tag und jede Stunde. Noch wolle sie nicht sterben, manchmal habe sie große Angst davor, sagt sie. Aber sie sei vorbereitet, und wenn der Tod käme, dann könnte sie damit leben, meint Ava und lacht über den Widersinn ihrer Worte.
Was sie beschreibt, habe ich in vielen Gesprächen mit schwerst- und todkranken Menschen gehört und auch selbst erfahren: Eine Krankheit kann bei all dem Schrecken, den sie mit sich bringt, eine Bereicherung sein. Nach der Krise und der Verzweiflung, die eine solche Diagnose auslöst, kommt die Erkenntnis, dass man die kostbare Zeit künftig besser nutzen, vielleicht andere Prioritäten setzen will. Man muss und sollte nicht alles über Bord werfen, was bisher gegolten hat, aber man wird manches vielleicht anders bewerten und ein neues Gefühl für das eigene Leben entwickeln. Eine Mitpatientin, die immer sehr diszipliniert gelebt hatte, beschloss, »jetzt endlich mal auf den Putz zu hauen«. Eine andere schrieb während jeder Chemo an einer Liste der Dinge, die sie unbedingt noch erleben wollte. Einige haben das Gefühl, sich von Ballast befreien zu müssen, von Dingen, aber auch Menschen, die sie belasten, ihnen nicht guttun.
Meine Beziehungen haben sich in dieser Zeit ebenfalls gewandelt: Einige sind noch enger geworden, von anderen Menschen habe ich mich verabschiedet. Ich habe gemerkt, auf wen ich zählen kann und wer nur zum »Gut-Wetter«-Freund taugt. Manche tauchten einfach ab und meldeten sich erst wieder, als alles »ausgestanden« war. Sie wussten vielleicht nicht, was sie mir sagen, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Ich halte ihnen das nicht vor, aber Freundschaft ist das für mich nicht. Andere, von denen ich es gar nicht erwartet hätte, waren plötzlich da. Riefen zwischendurch einfach mal an, schickten Blumen, brachten Bücher vorbei, passten auf meinen Jüngsten auf, fragten und hörten mir vor allem zu.
Durch diese Erfahrungen weiß auch ich heute besser, was Menschen in einer schweren Krisensituation bewegt, kann viel besser verstehen, was sie brauchen, weil ich selbst erlebt habe, wie es sich anfühlt, wenn alles aus den Angeln gehoben wird. Ratschläge und aufmunternde Sprüche wie »Kopf hoch!« oder »Das schaffst du schon« sind zwar gut gemeint, aber sie nehmen den Kranken in seiner Verzweiflung nicht wirklich ernst. Mich hat es manchmal geradezu wütend gemacht, wenn mich andere mit Tipps und wohlmeinenden Empfehlungen überhäuften. Dabei hätte mir schon geholfen, einfach in den Arm genommen zu werden oder ein kleines Briefchen in der Post zu finden mit dem Hinweis: »Ich bin da, wenn du reden willst.« Das ist eine wichtige Botschaft, weil sie dem Betroffenen Raum gibt, ihn nicht unter Druck setzt. Denn jemand, der eine schwere Krise durchlebt, ist nicht in jeder Situation und zu jeder Zeit gesprächsbereit und in der Lage, sich zu öffnen.
Mit Todkranken oder Sterbenden ist es nicht viel anders. Sätze wie »Das wird schon wieder«, »Mach dir keine Sorgen« oder »Du musst einfach positiv denken!« sind meist kein Trost. Sie können dem Betroffenen eher das Gefühl vermitteln, nicht verstanden zu werden. Umgekehrt fühlt mancher sich in seinem Bemühen um Unterstützung und seiner Anteilnahme zurückgewiesen. Manchmal sendet der Kranke auch missverständliche Signale aus, versteckt sich vielleicht hinter einer Fassade aus Stärke und Zuversicht und kann gar nicht zeigen, wie zerbrechlich und verletzlich er gerade ist. Deshalb gibt es in solchen Situationen kein »richtig« oder »falsch«. Da braucht es Mut, auf beiden Seiten, die Hand zu reichen und manchmal, ganz ohne Worte, einfach nur da zu
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