Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
Körper würde es irgendwann nicht mehr schaffen. Das war ein halbes Jahr vor Julians Tod.
Dann kam Weihnachten – und wieder einmal war Julian krank, wie schon so häufig in den letzten Monaten. Wieder einmal sah es so aus, als würde die Familie die Feiertage im Krankenhaus verbringen. Aber dann schien es, als sei der Infekt doch beherrschbar, Julian blieb zu Hause. Im Laufe des 26. Dezember allerdings verschlechterte sich sein Zustand. Gemeinsam mit der Kinderärztin beschlossen die Eltern, ihn nicht ins Krankenhaus zu bringen, sondern bis zum nächsten Morgen zu warten – sicher würden die Medikamente greifen. Gegen 16 Uhr schien das Antibiotikum, das Julian bekommen hatte, auch tatsächlich zu wirken. »Er hat mich ganz klar und direkt angeschaut, war plötzlich hellwach – da habe ich gedacht, wir hätten es geschafft.« Das Kind lag im Wohnzimmer auf dem Sofa, den Blick auf den Adventskranz mit den brennenden Kerzen gerichtet, ruhig und zufrieden. Um halb fünf machte er noch einen tiefen langen Schnaufer, dann war Julian tot.
»Die Situation war so unwirklich. Wie in Zeitlupe«, erzählt seine Mutter. »Wir haben versucht, ihn wiederzubeleben, mein Mann hat den Notarzt angerufen, wir haben reanimiert, bis der Rettungswagen kam. Eine Stunde haben sie noch um Julians Leben gekämpft, aber er kam nicht mehr zurück. Ich war wie in einem Strudel, ohne jedes Gefühl.« Und der achtjährige Marco mittendrin, für ihn hatte in diesem Augenblick niemand Zeit.
Die Nacht hat die Familie bei Julian auf Matratzen im Wohnzimmer verbracht. Er sollte nicht alleine sein. Irgendwann in den frühen Morgenstunden waren sie erschöpft eingeschlafen. Dann kam das schreckliche Erwachen. »Das war das Schlimmste, als ich morgens wach wurde und begriffen habe: Julian ist tot.«
Dieser Einschnitt habe ihr Leben von Grund auf verändert, sagt Ursula heute. Anfangs war sie völlig taub, wie gelähmt, eigentlich lebensunfähig. Für nichts hatte sie Kraft, nur Schuldgefühle, schreckliche Schuldgefühle: Warum war sie nicht gleich ins Krankenhaus gefahren? Hätte er dann vielleicht weitergelebt? Die Fragen kreisten permanent in ihrem Kopf, es gab kein Entrinnen.
Lange Zeit war Ursula für ihren Mann und ihren Sohn nicht ansprechbar. Sie war gefangen in ihrer eigenen Welt, in der es nur noch Verzweiflung gab. Und sie hatte plötzlich so viel Zeit. Keine Therapien mehr, keine Arztbesuche, nicht mehr dieses ständige Kümmern um ihr schwerkrankes Kind. Diese Leere machte ihr Angst. Es dauerte, bis sie erkannte, dass sich dadurch neue Räume auftaten. Nun konnte sie Dinge tun, an die so lange gar nicht zu denken gewesen war. Sie fing an zu reiten, lernte Englisch, ging in eine Gruppe für trauernde Eltern und las, las, las, was sie zum Thema Tod und Sterben, Abschied und Loslassen überhaupt nur finden konnte.
»Ich bin ganz langsam wieder aufgewacht«, beschreibt sie die Veränderung. Der furchtbare Schicksalsschlag, der ihr zuerst jeden Lebensmut genommen hatte, wurde zum Auslöser einer neuen, unbändigen Lebenslust. Julians Tod war im Nachhinein wie ein Impulsgeber dafür, scheinbar alltägliche Dinge mehr wertzuschätzen, die Zeit nicht achtlos vorbeirauschen zu lassen, neue Prioritäten zu setzen – und sich mit der Endlichkeit ihres eigenen Lebens auseinanderzusetzen. »Ich sehe mein Leben heute anders, klarer. Auch mein eigenes Sterben und meinen Tod, irgendwann. Natürlich hebt man die alten Muster nicht endgültig auf, natürlich denke ich nicht jeden Tag daran, dass ich morgen sterben könnte. Aber: Ich freue mich, wenn ich morgens aufwache, auf jeden neuen Tag, darauf, etwas daraus zu machen, etwas anzufangen, auszuprobieren.« Einmal in der Woche geht sie zu den Kindern in der Körperbehindertenschule, auf der auch Julian war, und jedes Mal wird ihr klar, wie froh und dankbar sie sein kann, dass es ihr gutgeht, dass sie laufen kann, frei ist zu entscheiden, was sie tun will. Es gibt Menschen wie Julian, die das nicht können und die trotzdem fröhlich sind. Deshalb hat Ursula beschlossen, dass ihr ihre Zeit zu schade ist, um sie schlecht gelaunt zu verbringen. Einen Moment hält sie inne, überlegt kurz und sagt dann: »Weißt du, ich fühle heute eine große Kraft in mir. Vor vielen Dingen habe ich keine Angst mehr, auch nicht vor dem Tod. Der Tod wird für mich ein Heimkommen sein – ein Heimkommen auch zu Julian.«
*
Wir erleben das Sterben und den Tod eines nahen Menschen natürlich als dramatischen Verlust,
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