Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
dicht, eine Thrombose in der Ellenbeuge und Schmerzen von der Schulter bis in die Fingerspitzen. Beim dritten Mal befiel mich die schwere Übelkeit schon, als ich das Behandlungszimmer betrat – eine Art Pawlow’scher Reflex. Den anderen Frauen, die wie ich auf ihre Dosis Gift warteten, ging es genauso. Und immer war da dieser metallische Geschmack im Mund und ein unerträglicher Geruch, den keiner sonst riechen oder schmecken konnte. Der Haarausfall war für mich noch das Harmloseste und wie all die anderen heftigen Reaktionen meines Körpers für mich der Beweis, dass die Chemo wirkte. Wenn ich so völlig elend war, musste das auch den Krebs in die Knie zwingen. Gleichzeitig fühlte ich mich eigentlich erst durch die Therapien richtig krank, und irgendwann war der Punkt erreicht, wo ich wusste: Das halte ich nicht mehr aus, dann bin ich lieber tot. Ich habe die Chemo damals nach dem vierten Zyklus abgebrochen – in Abstimmung mit den Ärzten, die mir versichert haben, dass mein Rückfallrisiko damit nicht größer würde.
Danach folgte die Bestrahlung. 36-mal, jeden Tag mit Ausnahme der Wochenenden, fand ich mich in einem kahlen Raum ein, in dem ich mit einer riesigen Maschine ganz alleine war. Irgendwie unheimlich, nur das Klackern des Apparates zu hören, dieses Surren, wenn die Strahlen abgeschossen wurden, aber sonst nichts zu sehen, nichts zu spüren. Nach etwa der Hälfte der Bestrahlungen befiel mich allmählich eine bleierne Müdigkeit. Ich konnte mich manchmal kaum noch rühren. Anders als die Chemo habe ich die Bestrahlungen aber durchgezogen. Im Anschluss habe ich fünf Jahre lang Medikamente mit extrem unangenehmen Nebenwirkungen nehmen müssen; oft habe ich dagesessen und mich gefragt, ob mein Leben irgendwann wieder normal sein würde. Es wurde wieder normal. Und wenn ich mich heute frage: Hat sich die ganze Quälerei, haben sich die Schmerzen, die Ängste, hat sich dieses ganze Elend gelohnt, dann sage ich ohne jede Einschränkung und aus tiefstem Herzen: Ja!
Diese Phase war eine Zeit großer Verzweiflung, aber zugleich eine mit ganz einmaligen, besonderen Erfahrungen. Ich musste begreifen, dass auch mein Leben endlich ist. Das hat mich zutiefst erschreckt, aber gleichzeitig hat es mir die Chance zu einer umfassenden Bestandsaufnahme gegeben. Wenn ich tatsächlich schon so früh würde sterben müssen, dann sollte vorher wenigstens alles einmal auf den Prüfstand kommen. Ich wollte mein Leben auf seinen Sinn hin abklopfen: Was war gut, was fehlte? Was würde ich noch ändern, erledigen, verwirklichen wollen, bevor ich tatsächlich bereit wäre, mich zu verabschieden?
Lange Zeit war der Brustkrebs die zentrale Größe in meinem Leben, aber ganz allmählich spürte ich einen Wandlungsprozess. In der Auseinandersetzung mit meiner Krankheit lernte ich mich selbst besser kennen, fand heraus, was mir wirklich wichtig ist, was zählt.
Ich begriff zum Beispiel, wie wichtig es war, genauer auf meine innere Stimme zu hören, die mir in der Vergangenheit oft gesagt hatte: Ich kann nicht mehr, es ist zu viel, das macht mich krank. Zeitweise hatte ich mir beruflich einfach zu viel aufgeladen, zwei Sendungen im permanenten Wechsel, in Mainz und Berlin, das Hamsterrad drehte sich nicht nur, es rotierte mit manchmal atemberaubender Geschwindigkeit. Angetrieben von meinem eigenen Ehrgeiz, aber auch aus dem Gefühl heraus, kein Angebot, keine Herausforderung ablehnen zu können. Würde ich einmal »nein« sagen, fürchtete ich, würde man mir keine weitere Chance bieten. Und zu Hause wartete ja noch meine Familie, die auch nicht zu kurz kommen durfte. Vor lauter schlechtem Gewissen wollte ich vor allem mir selbst beweisen, dass ich auch da alles im Griff hatte, im Kindergarten die schönste Laterne basteln und zu Weihnachten – wie alle perfekten Mütter – auch noch Plätzchen backen konnte. Zeit für mich selbst gab es nie.
Dass ich doch »nein« sagen konnte, das merkte ich erst, als es fast schon zu spät war. Ich liebe meinen Beruf, nach wie vor, aber ich wollte mich nicht mehr so hin- und hergerissen fühlen zwischen dem Stress, der Hektik und den Anforderungen meiner Arbeit und meinem Familienleben. Ich habe klare Prioritäten gesetzt: Meine Familie ist das Allerwichtigste für mich – sie steht an erster Stelle – immer. Und: Ich will gesund bleiben. Das hat auch dazu geführt, dass ich heute mehr auf mich und meinen Körper achte, sorgsamer mit mir umgehe und gelassener als früher auf Ärgernisse
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