Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
deren Worte sich verfehlen,
wir vergessen es.
Und sie?
Sie können die Lehre nicht wiederholen.
Dein Tod oder meiner
Der nächste Unterricht?
So hell, so deutlich,
dass es gleich dunkel wird.
Hilde Domin, Unterricht
Das Sterben lernen
Wir können aus jedem Augenblick eine Gelegenheit machen, uns zu ändern und uns – mit friedvollem Geist und offenem Herzen – sorgfältig auf den Tod und die Ewigkeit vorzubereiten.
Sogyal Rinpoche
Ich kann mich noch sehr genau an dieses unglaubliche Gefühl erinnern, damals, als ich den süßen Winzling das erste Mal in den Armen gehalten habe. »Nichts und niemand wird uns je trennen können«, dachte ich. Dabei fing es eigentlich gleich nach der Geburt an – das Abnabeln. Ein Schnitt, und die Nabelschnur war durch. Eine weitere Trennung kam mit Beginn der Kindergartenzeit. Wir litten beide schrecklich, als mein Sohn am ersten Tag die Ärmchen um meinen Hals schlang und schluchzte: »Mama, ich will immer bei dir bleiben!« Davon allerdings will er heute nichts mehr wissen, und das änderte sich schon, als mit Schulbeginn plötzlich eine fremde Frau in unser Leben trat: die Klassenlehrerin. Mein Sohn betete sie an, was sie sagte war Gesetz. Mit 16 ging der Junge ein Jahr ins Ausland, irgendwann zog er aus, und heute lebt er sein eigenes Leben, so wie meine beiden anderen Kinder auch. Das Leben mit ihnen war begleitet von vielen kleinen und größeren Abschieden. Jedes Mal hat es weh getan und jedes Mal wusste ich, dass es wichtig war, sie gehenzulassen. Erst durch meine eigenen Kinder habe ich begriffen, wie schwer das für meine Eltern oft gewesen sein muss und dass das Loslassen zu den wichtigsten Übungen des Lebens zählt – bis ganz zum Schluss, wenn wir alles loslassen müssen.
Wir erleben im Laufe unseres Lebens immer wieder Trennungen und Verluste, müssen etwas oder jemanden gehen lassen. Jede dieser Erfahrungen ist wie ein kleiner Tod. Es sind schwierige Augenblicke im Leben, aber Lehrstunden, die uns vorbereiten, auch auf das, was uns bei unserem letzten Abschied erwartet.
Unsere Erfahrungswelt ist das Leben. Wir können nicht wissen, wie es ist, zu sterben oder tot zu sein. Und bis zuletzt wird der Tod für uns fremd und unfassbar bleiben. Aber wir können uns auf ihn vorbereiten, ihn üben und uns an Montaigne halten, der empfiehlt: »Nehmen wir ihm seine Unheimlichkeit, machen wir uns ihn vertraut, halten wir mit ihm Umgang, bedenken wir nichts so häufig wie den Tod.« 8
Und Gelegenheit dazu bietet sich mehr, als wir denken – jeden Tag.
Kleine Schritte
Wir üben heute schon den Tod von morgen.
Nelly Sachs
Üben, üben, üben – das ist das Geheimnis des Erfolgs, behaupten Wissenschaftler und Karriere-Coaches. Tatsächlich belegen Untersuchungen, dass Talent allein nicht ausschlaggebend dafür ist, was man erreicht, sondern die Beharrlichkeit, Geduld und Hingabe, mit der man sein Ziel verfolgt. Das ist eine große Erleichterung, denn wirkliches Talent zum Sterben hat wohl keiner von uns. Bleibt also das, was fürs Beherrschen eines Musikinstruments, zum Erreichen sportlicher Höchstleistungen, beim Schach oder Erlernen einer Fremdsprache gilt: üben!
Kein Neuling am Klavier fängt mit Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 3 an, keiner backt zur Premiere eine dreistöckige Sahnetorte oder versucht einen Flickflack, bevor er nicht einmal sicher den Handstand geschafft hat. Genauso ist es mit dem Tod. Man sollte sich ihm behutsam und langsam nähern, Schritt für Schritt.
Aber wie, bitte schön, soll man das Sterben üben?
Getreu dem Motto: »Je größer die Aufgabe, desto kleiner die Schritte!«, fangen wir damit an, genauer auf unser Leben zu schauen, innezuhalten, den Wert des Augenblicks zu erfassen. Und das ist gar nicht so einfach, denn wir bewegen uns manchmal durch die Welt, ohne zu bemerken, was um uns herum geschieht. Wir alle kennen das Gefühl, zu Hause loszufahren und plötzlich an unserem Ziel anzukommen, ohne wirklich zu wissen, wie wir da hingelangt sind. Wir sind oft einfach nicht bei der Sache, abgelenkt von unseren Gedanken oder vom Geplärr im Radio. Ablenkung ist eine ständige Verführung, und selten sind wir in Gedanken da, wo wir in diesem Augenblick tatsächlich, physisch sind.
Ich erinnere mich an einen Cartoon, der eine Frau in den unterschiedlichsten Lebenslagen zeigte: bei der Arbeit, beim Kochen, unterwegs mit den Kindern oder im Bett. Und immer sah man über ihrem Kopf eine Gedankenwolke schweben, die sie anderswo zeigte. Sie
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