Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
auf meinem Schreibtisch, und ich erschauere jedes Mal ein bisschen, wenn ich ihn anschaue, diesen Botschafter aus unserer Erdgeschichte. Und das gibt mir ein Gefühl für meine eigene Endlichkeit und gleichzeitig für die Ewigkeit der Natur.
Beeindruckend ist es auch, an einem ruhigen, dunklen Ort in den Himmel zu schauen, den Großen Wagen oder den Orion zu suchen, das Licht von Sternen zu sehen, die vielleicht längst schon verglüht sind. Sich in den Weiten des Weltalls zu verlieren und zu versuchen, sich klarzumachen, dass es nirgendwo endet.
Mein Vater erzählte in den Monaten vor seinem Tod häufig nach einer unruhigen, mit Schmerzen verbrachten Nacht, er habe bei klarem Himmel den Morgenstern gesehen, dieses hellste Gestirn am Firmament vor Sonnenaufgang, die Venus. Er freute sich darüber jedes Mal so sehr, dass ich glaube, er sah das fast als ein Zeichen, als etwas von beinahe symbolischer Bedeutung. Im Neuen Testament wird Jesus übrigens als »Morgenstern« bezeichnet (Offenbarung 22, 16). Sein helles Strahlen wird als Trost beschrieben, als ein »Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen« (2 Petrus 1, 19). Und auch in einem Kirchenlied von Jochen Klepper heißt es: »Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern. So sei nun Lob gesungen dem hellen Morgenstern.«
Für meinen Vater war dieses Licht in den finstersten Stunden seiner Krankheit vielleicht so etwas wie ein Versprechen, etwas, das ihm Hoffnung gab. Eines Tages, nachdem er länger nicht mehr davon gesprochen hatte, fragte ich ihn: »Und, was macht der Morgenstern?« Da wurde er ganz traurig: »Ich sehe ihn nicht mehr.« Wenige Wochen später ist er gestorben. Mir hat das damals keine Ruhe gelassen. Wo war der Morgenstern geblieben? Die Antwort ist einfach: Nach sieben Monaten verschwindet die Venus für drei Monate hinter der Sonne und ist unsichtbar, danach wird sie zum Abendstern, und dann beginnt der Zyklus von neuem.
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Wenn man genau beobachtet und in sich hineinhört, dann findet jeder das für ihn passende Übungsfeld, um sich an die Grundfragen des Lebens und des Sterbens heranzutasten. Der eine geht gern ins Kino und wird dort viel Stoff zum Nachdenken finden. Filme bieten einen emotionalen Zugang zu Themen wie Abschied und Verlust, und sie geben uns gleichzeitig die Möglichkeit, uns selbst und unser Handeln zu hinterfragen: Wie hätte ich mich in dieser oder jener Situation verhalten? Was würde ich unbedingt noch tun oder sehen wollen, bevor ich sterbe? Wen möchte ich am Ende bei mir haben?
Für andere stellen Kunst oder Musik eine Verbindung zu Tod und Sterben her. »Der Tod hält mich wach«, hat der Künstler Joseph Beuys einmal gesagt, und auch für den Betrachter kann ein Bild, eine Skulptur zur Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit führen und zur Beschäftigung mit dem Tod, der uns mal als düstere Bedrohung entgegentritt, dann wieder als tröstlicher Gefährte. In ihrer eigenen, intuitiven Bildsprache kann uns die Kunst an fremde, unbekannte Plätze führen, an den Grund unserer Seele, zu unseren Hoffnungen, Wünschen und der Angst, die auch Michelangelo oder Andy Warhol kannten.
Wer an der Decke der Sixtinischen Kapelle die »Erschaffung Adams« betrachtet, dieses berühmte Bild, auf dem Gott über seinen ausgestreckten Finger den ersten Menschen zum Leben erweckt, der wird den »göttlichen Funken« nicht nur sehen, sondern ihn vielleicht auch selber spüren. Oder die Verzweiflung und Trauer einer Mutter über den im Krieg gefallenen Sohn in Käthe Kollwitz’ Holzschnittreihe »Krieg«. Ihr Sohn Peter war im Ersten Weltkrieg, ihr Enkel im Zweiten getötet worden. Der Tod war in ihrem Werk ein durchgängiges Thema, das sie bis zuletzt auch mit Blick auf ihr eigenes Sterben beschäftigte. Zuletzt hat sie ihm einen ganzen Zyklus gewidmet.
Einen ähnlichen Zugang zu unseren oft versteckten und verdrängten Gefühlen im Umgang mit der Endlichkeit unseres Lebens gibt die Musik. Jeder kennt wohl dieses Gefühl, dass ihn ein Stück oder ein Lied in eine ganz bestimmte Stimmung versetzt. Da werden Empfindungen in Töne und manchmal auch in Worte übersetzt, wenn wir gar keinen Ausdruck mehr für das finden, was uns bewegt. In allen Zeiten hat der Tod auch die Musik geprägt. Mozarts Requiem etwa, an dem er noch schrieb, als er starb. Es gehört zum Großartigsten, das je geschaffen wurde, und ist auch eine sehr persönliche
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