Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
konnte nicht mit den Kindern spielen, ohne in Gedanken eine Einkaufsliste zu erstellen, dachte beim Einkaufen an ein entspanntes Abendessen bei Kerzenschein und im Kerzenschein an die Berge von Unterlagen, die sich auf ihrem Schreibtisch türmten.
Wir haben verlernt, im Augenblick zu sein, das wahrzunehmen, was jetzt gerade ist. Dabei, wir erinnern uns an Tolstoi, ist der wichtigste Moment im Leben doch genau der im Hier und Jetzt. Die Meditation kann eine gute Übung sein, das ständige Herumfliegen unserer Gedanken zu stoppen, das unablässige »Geschwätz im Kopf« auszuschalten. Für Christen ist Meditation die Andacht im Gebet. Für Buddhisten ist es eine spirituelle Praxis, die sie täglich üben. Meditation heißt, den zerstreuten Geist »heimzubringen«, sagt der tibetische Meditationsmeister Sogyal Rinpoche und erzählt die Geschichte einer alten Frau, die zu Buddha kam und ihn fragte, wie sie meditieren solle. »Er wies sie an, sich jeder Bewegung ihrer Hände bewusst zu sein, wenn sie Wasser aus dem Brunnen schöpfte, denn er wusste: wenn sie darauf achten würde, wäre sie bald in jenem Zustand wacher und weit offener Ruhe, der Meditation ist.« 9 Ich kenne eine ganze Reihe von Menschen, für die diese Form der Kontemplation fester Bestandteil ihres Alltags ist und die in Krisensituationen in diesen Momenten der Sammlung und inneren Einkehr Ruhe und Kraft gefunden haben. Ich habe es während meiner Krankheit auch mit dem Meditieren versucht, während der Chemotherapie, um durchzuhalten – ich bin damit gescheitert. Aber nicht jede Methode, jede Strategie passt für jeden. Auch hier muss jeder seinen eigenen Weg finden, der für ihn tatsächlich gangbar ist.
Während für den einen also die Meditation eine Hilfe sein kann, das Innehalten und Beobachten zu üben, wird für andere die Natur zum Lehrmeister. Hier erleben wir, wie Pflanzen im Frühjahr aus dem Boden kriechen, wie Bäume und Büsche Blätter und Blüten treiben, wie sie wachsen, aufblühen und verwelken. Für Ursula war die Natur eine Art Leitfaden, um mit ihren Kindern über das Thema Tod und Sterben zu sprechen. Wenn eine Pflanze zu welken begann oder eine Blüte plötzlich abfiel, wenn ein kleines Vögelchen aus dem Nest gefallen und gestorben war, waren das immer Anlässe, darüber zu reden, dass alles Lebendige vergeht, aber auch darüber, dass der kleine Krokus im nächsten Frühjahr wiederkommt, dass immer Neues entsteht und alles ein immerwährender Kreislauf ist. Das gilt nicht nur in der Natur, das gilt für vieles, eigentlich alles im Leben: Nur wo etwas zu Ende geht, kann Neues entstehen. Nur wenn ich etwas los- und zurücklasse, habe ich die Hände frei, mein Leben in die Hand zu nehmen. Oder, wie es in Hermann Hesses Gedicht »Stufen« heißt:
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne …
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In etlichen Interviews haben mir Abenteurer, Gipfelstürmer oder Weltumsegler unabhängig von einander immer wieder von diesem ganz besonderen Gefühl erzählt, das einen erfasst, wenn man auf dem Gipfel eines Berges steht oder über das offene Meer blickt. Sie sprachen von Ehrfurcht und Ergriffenheit angesichts der Weite und Unendlichkeit der Natur und berichteten, wie winzig klein und unbedeutend man sich dann fühlt. Sie hätten dadurch gelernt, sich selbst nicht mehr so furchtbar wichtig zu nehmen. Einer sagte mir, er sehe sich heute als kleinen Teil des großen Ganzen und sei in solchen Momenten Gott ganz nah gewesen.
Aber man muss nicht den Mount Everest besteigen oder mit einer Karawane durch die Wüste Gobi ziehen, um solche Erlebnisse zu haben. Ich liebe es zum Beispiel, am Meer spazieren zu gehen und Steine zu sammeln. Ich habe sie als Souvenirs schon um die halbe Welt geschleppt und muss jedes Mal, wenn ich diese geäderten oder bunt gesprenkelten Kiesel in der Hand halte, darüber nachdenken, wie lange sie wohl schon auf dieser Erde sind und was sie im Laufe von Jahrtausenden »erlebt« haben. Ich habe sogar einen Stein vom Grund des Meeres, ein Studiogast brachte ihn mir von seiner Expedition auf der »Polarstern« mit. Monate war er mit dem Forschungsschiff in der Arktis unterwegs gewesen und hatte Gestein aus dem Erdmantel herausgebohrt, unter anderem auch »meinen« Stein, der über 10 Millionen Jahre alt sein soll. Er liegt
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