Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
eben noch kalt auf dem Seziertisch oder blutend im Wohnzimmer lagen, kurz darauf quicklebendig im nächsten Film wieder auf. Das Sterben in Videospielen hat eine besondere Qualität durch die Interaktion, denn der Spieler kann entscheiden, wer wann und auf welche Weise stirbt. Der Tod ist nicht echt, nichts jedenfalls, was uns tiefer berührt. Und: Wir haben die Dinge in der Hand – im wahrsten Sinn des Wortes –, mit Joystick oder Fernbedienung. Ein Knopfdruck genügt, und schon haben wir den Sender gewechselt, das Spiel beendet, abgeschaltet. Im wahren Leben allerdings können wir nicht wegzappen, wenn uns das Programm nicht mehr gefällt. Der Tod lässt sich nicht wegschalten.
Wenn sich die Truhe öffnet
So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehen.
Matthias Claudius
Wer nicht will, muss also seine Truhe auf dem Dachboden in der Regel für lange Zeit nicht öffnen und hineinschauen. Und das kann über Jahre und Jahrzehnte auch gut funktionieren. Aber irgendwann, beim einen früher, beim anderen später, geschieht etwas, und die Truhe öffnet sich von ganz allein, und wie Geister spuken dann die Gedanken an Tod und Sterben auf dem Dachboden unserer Seele herum. Wir entkommen ihnen nicht.
Meine Truhe öffnete sich, als ich mit der Diagnose Brustkrebs konfrontiert wurde und keiner wusste, ob und wenn ja, wie lange, ich weiterleben würde. Plötzlich war es mein eigener Tod – bis dahin etwas Abstraktes, Unwirkliches, etwas, das in einer fernen Zukunft lag –, der mir nun ganz real entgegentrat. Angst packte mich, schüttelte mich durch. Als Kind wäre ich in einer solchen Situation zu meinen Eltern ins Schlafzimmer geschlichen, um unter ihrer Bettdecke Schutz zu suchen. Diesmal konnte ich mich nicht verkriechen, nirgends. Auch Verdrängen funktionierte nicht. Es blieb mir nichts anderes übrig, als meiner Sterblichkeit ins Auge zu blicken. Ungeschützt.
Ich werde von dieser Zeit, meinen Zweifeln und Ängsten später noch ausführlicher erzählen. Für den Moment nur so viel: Wenn ich gefragt werde, was sich seither verändert hat, versuche ich das so zu beschreiben: Ich stehe zwar immer noch am selben Fluss des Lebens wie alle – aber auf der anderen Seite. Meine Perspektive hat sich verändert und meinen Blick weit geöffnet für Dinge, die ich vorher nicht oder anders gesehen habe. Sterben und Tod machen Angst, ja! Aber was wäre unser Leben ohne ein Ende? Es wäre wertlos, beliebig, eine Aneinanderreihung von Ereignissen, ein endloser Trott. Erst der Tod macht das Leben kostbar. Und wenn uns bewusst wird, dass jeder Augenblick wertvoll und unwiederbringlich ist, dann beginnen wir, unsere Zeit tatsächlich zu nutzen und zu genießen. Dann werden wir vielleicht auch mutiger, trauen uns, Dinge zu bewegen, Grenzen zu sprengen, uns über Konventionen hinwegzusetzen, denn wenn nicht jetzt, wann dann?
Vielleicht ist der Tod tatsächlich nur ein Horizont, diese Linie zwischen Himmel und Erde, bis zu der wir schauen können. Und wer weiß schon, was dahinter kommt?
Das Einzige, das wir sicher wissen, ist, dass wir hier und heute die Chance haben, unsere Zeit zu nutzen und bewusst zu leben. Wenn wir lernen, Sterben und Tod als Teil unseres Lebens zu begreifen, dann werden sich Türen öffnen, dann werden wir zu verstehen beginnen, warum wir auf der Erde sind.
Das Verdrängen
Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das weiß, dass es sterben wird. Die Verdrängung dieses Wissens ist das einzige Drama des Menschen.
Friedrich Dürrenmatt
Wir alle sind Anfänger, wenn es ans Sterben geht. Wir leben ein ganzes Leben auf diesen Moment zu, »alle Tage wandern wir zum Tode«, schreibt Montaigne. Aber nur ein einziges Mal gehen wir diesen Weg ganz zu Ende. Es ist Premiere und letzter Vorhang in einem. Ein Trost allerdings ist, dass wir im Laufe unseres Lebens immer mal wieder die Gelegenheit haben, auf Tuchfühlung mit dem Tod zu gehen. Das ist unsere Chance, sein letztes Geheimnis zwar nicht zu ergründen, aber ihn uns vertraut zu machen, auszukundschaften, zu »probieren« 1 .
Der Tod von Frau Kapp war meine erste, eine sehr unmittelbare Begegnung mit ihm. Aber es gab in der Welt meiner Kindheit noch andere Anlässe und Situationen, die mich in seine Nähe führten und mir damit die Möglichkeit gaben, seine Rätselhaftigkeit zu erkunden, mich zu fragen, was die Welt in ihrem Innersten zusammenhält.
Zu den schönen Erinnerungen meiner Kindheit gehört es, krank zu sein.
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