Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
dem Gedanken, wie viele Stunden er da einsam gelegen hat, medizinisch zwar ver-, aber eben nicht um-sorgt. Hätten wir ihn doch nach Hause holen und auf die ganze Hightech-Medizin verzichten sollen?
Immer wieder hatte ich während meiner Besuchszeiten versucht, mit den Ärzten über die Situation meines Vaters zu sprechen, denn es war klar, dass es zu Ende ging. Welche Therapien waren jetzt noch sinnvoll, was war der »beste« Weg, ihm sein Sterben zu erleichtern? Aber nie hatte einer Zeit für mich – in einer halben Stunde, hieß es immer, vielleicht. Und dann war der Arzt doch wieder bei einem anderen wichtigen Termin oder im OP . Vieles wurde entschieden, wenn ich nicht da war und über den Kopf meines Vaters hinweg. Keiner hielt es für nötig, einmal in Ruhe mit ihm zu bereden, was er eigentlich wollte. Noch eine Magenspiegelung, noch eine Röntgenaufnahme, noch einmal durch die gesamte Mühle. Die Laborwerte gaben vor, wie die Situation gehandhabt würde, nicht die Wünsche und Bedürfnisse meines Vaters. Bis er die Dinge selbst in die Hand nahm und sich Gehör verschaffte: »Schluss!«, sagte er vier Tage vor seinem Tod und lehnte eine Weiterbehandlung mit Antibiotika und jede Form der künstlichen Ernährung für sich ab. Er wollte nicht länger ausgeliefert sein, wohl wissend, dass er damit seinen Tod beschleunigte.
Auch Simone de Beauvoir fragte sich nach dem Tod ihrer Mutter: »Wie entsetzlich muss es sein, sich als wehrloses Etwas zu fühlen, ganz der Willkür teilnahmsloser Ärzte und überlasteter Krankenschwestern ausgeliefert. Keine Hand auf der Stirn, wenn das Entsetzen sie packt; kein trügerisches Geplapper, mit dem das Schweigen des Nichts übertönt wird.« 20
Wort an Wort
Wir wohnen Wort an Wort
Sag mir Dein liebstes Freund
Meines heißt DU
Rose Ausländer
Ein Mensch braucht, um sich aus dem Leben verabschieden zu können, nicht nur medizinische Hilfe. Sondern vor allem Zuwendung und Kommunikation, die Möglichkeit zu Selbstreflexion und zur Auseinandersetzung mit wesentlichen Fragen. Und das ist nicht nur für den Sterbenden lebens- oder besser sterbenswichtig, auch für den Zuhörenden kann ein solcher Austausch lohnend sein. Diese Gespräche seien unvergleichlich, sagt auch die Palliativmedizinerin Christine Schiessl. Die Atmosphäre, die Energie in einer solchen Situation, sei so dicht, wie sonst kaum in unserem »normalen« Alltag. »Wenn ich das, was ich hier erfahre, auf meine eigenen Lebensziele und Werte übertrage, dann war jedes dieser Gespräche für mich ein kostbares Geschenk.«
Eine Erfahrung, die auch ich gemacht habe. Die Gespräche mit meinem Vater in den letzten Wochen vor seinem Tod waren so intensiv und tiefgehend wie nur selten davor. Da fielen Schranken, die sonst zwischen den Generationen, zwischen Eltern und ihren Kindern oft unüberwindlich erscheinen. Wir haben über wirklich alles geredet, über Gott und die Welt und über sehr persönliche Dinge wie Reue und Schuld, wie Ängste und die Dinge, die ihm und mir Halt und Kraft und Trost gegeben haben.
Eine solche Nähe und Offenheit kann uns aber auch Angst machen, so sehr, dass wir sie vielleicht gar nicht zulassen. So viel Unausgesprochenes schwingt da mit, gerade zwischen Menschen, die sich nahestehen. Manchmal auch falsch oder missverstandene Fürsorge, der Wunsch, den anderen zu schonen, wenn Schonung eigentlich gar nicht mehr möglich oder sinnvoll ist. »Da gibt es immer wieder das Phänomen, dass Angehörige sich gegenseitig schützen wollen«, berichtet Christine Schiessl. »Der Patient sagt nicht, wie schlecht es ihm geht und was er von uns weiß, weil er die Ehefrau nicht belasten will. Und die Ehefrau bittet mich auf dem Gang, nichts zu sagen, weil sie ihrem Mann Sorgen und Ängste ersparen möchte. Beide spielen Theater und reden über alles Mögliche, über Fußball oder das Wetter, aber nicht über das, was vielleicht tatsächlich wichtig wäre.«
So kann aus wohlgemeinter Rücksichtnahme, dem Wunsch, den anderen zu schonen, zwischen Sterbenden und Zurückbleibenden eine trennende Wand aus Schweigen entstehen, genau dann wenn beide Seiten Vertrauen und Offenheit am dringendsten brauchen.
Ich erinnere mich an eine Frau, Mitte oder Ende fünfzig vielleicht, mit der ich während meiner Chemotherapie in einem Krankenzimmer saß. Zu viert oder fünft hingen wir da jede an ihrem Tropf und sagten manchmal über Stunden kaum ein Wort, dann wieder redeten wir über Entspannungsmethoden oder
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