Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)

Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)

Titel: Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Conrad
Vom Netzwerk:
gar eines Sterbenden zu sitzen, ihn zu fragen, was er braucht, und ihm zuzuhören, die bleibt oft nicht.«
    Ich habe das auch bei meinen Eltern erlebt. Mein Vater ist im Krankenhaus gestorben, meine Mutter hat kurz vor ihrem Tod 14 Tage dort verbracht, auf »normalen« Stationen. Da waren fürsorgliche Krankenschwestern und Pfleger, kompetente und engagierte Ärzte. Aber sie bewegten sich in einem so arbeitsverdichteten System, in so eng getakteten Zeitkorridoren, dass eigentlich kein Raum blieb, zu fragen: Wie geht es Ihnen? Wie fühlen Sie sich? Wo tut es weh? Was kann ich tun, damit Sie sich besser fühlen?
    Meine Mutter lebte da seit Jahren schon in einer Welt »außerhalb der Zeit«, wie sie es einmal selbst beschrieben hat. Ihre Alzheimer-Erkrankung hatte ihre Erinnerungen schon lange weggewischt, und ich war der letzte vertraute Mensch, den sie noch erkannte – meistens jedenfalls. Wenige Wochen vor ihrem Tod musste sie operiert werden. Über mehrere Tage hinweg hatte sich angedeutet, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte. Sie aß fast nichts mehr, klagte über Unwohlsein, konnte das aber nicht weiter präzisieren oder verorten. Das ist Teil der Tragödie von dementen Menschen, dass ihnen die Möglichkeit genommen ist, ihre Befindlichkeiten auszudrücken und Schmerzen zu lokalisieren. Eine vage Handbewegung war ihre Antwort auf unser drängendes Fragen. Die Untersuchungen ergaben nichts. Wir waren ratlos. Doch dann ging es ganz schnell. Ich wurde im Büro informiert, dass meine Mutter auf dem Weg ins Krankenhaus sei. Fünf Stunden später, mitten in der Nacht, lag sie im OP : Ein Magengeschwür war durchgebrochen, der gesamte Mageninhalt hatte sich in die Bauchhöhle ergossen. Es bestand akute Lebensgefahr. Den nächsten Tag, sagten mir die Ärzte, hätte meine Mutter nicht überlebt. Ich hielt ihre Hand, bis sie in den Operationssaal gerollt wurde und wollte wieder bei ihr sein, als sie aufwachte. Ich stellte mir vor, wie verwirrend und beängstigend diese ganze Situation für sie sein musste. Der sehr fürsorgliche und engagierte Arzt, der sie operiert und mich auch in der Nacht ausführlich über ihren Zustand informiert hatte, brachte mich morgens in den Aufwachraum. Ich fand sie dort hellwach und sehr aufgeregt und spürte, wie erleichtert sie war, in dieser fremden Umgebung endlich jemanden zu sehen, der ihr vertraut war und mit ihr redete. Sie fragte nach ihrem Mann und war beunruhigt, wer sich denn nun um ihre Kinder kümmere, wo sie nicht da sei. Immer wieder wollte sie sich von den Schläuchen und Kabeln an Armen und Körper befreien. Ich konnte sie davon abhalten, redete ruhig auf sie ein und erklärte ihr wieder und wieder, was es mit all diesen »Strippen«, über die sie sich beschwerte, auf sich hatte. Aber dann kam der Schichtwechsel und mit ihm eine neue Krankenschwester, die mich hochkant aus dem Aufwachzimmer warf. Ich hätte hier nichts verloren, sie habe die Verantwortung, und meine Anwesenheit sei störend. Ich erinnere mich noch an den verwirrten Gesichtsausdruck meiner Mutter, als ich den Raum verlassen musste. Stunden später durfte ich sie auf der Station besuchen und fand sie völlig entkleidet und hilflos vor, sie hatte sich alle Kanülen aus dem Körper gerissen und lag wie ein Häuflein Elend in ihrem blutverschmierten Bettzeug. Ich mache hier niemandem einen Vorwurf, alle auf dieser Station waren ausgesprochen nett und bemüht, aber sie hatten einfach keine Zeit gehabt, nach einer verwirrten Patientin zu schauen, die nicht wusste, wie sie nach Hilfe rufen sollte. Das System ist auf solche »Sonderfälle«, die mehr als »nur« der medizinischen Versorgung bedürfen, nicht eingerichtet.
    Ich war zwar jeden Tag bei ihr, aber immer nur stundenweise. Und das war auch so, als zwei Jahre zuvor mein Vater im Krankenhaus im Sterben lag. Die Ärzte dort waren allerdings viel weniger entgegenkommend und hilfreich gewesen. Damals hatte ich mich genauso hin- und hergerissen gefühlt zwischen Beruf, Familie und der Betreuung meiner Mutter, die zu diesem Zeitpunkt schon in einem Pflegeheim lebte. Ich war ständig im Eilschritt unterwegs von einem zum anderen, das schlechte Gewissen und Schuldgefühle im Gepäck. Mein Vater war viel allein in dieser Zeit, in einem sterilen Krankenzimmer mit kahlen Wänden nur mit dem Foto seiner Enkel, einem Bild, das eine Freundin für ihn gemalt hatte, einem Sträußchen Blumen und ab und zu ein bisschen Bach vom CD -Player. Ich werde immer noch traurig bei

Weitere Kostenlose Bücher