Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
alternative Therapien, von denen wir gehört oder gelesen hatten. Und manchmal sprachen wir auch über die familiäre Situation, darüber, wie Kinder und Ehepartner mit der Krankheit klarkamen. Diese Frau stand völlig unter Schock. Nicht nur wegen ihrer Krebserkrankung und der Auskunft der Ärzte, dass man sie nur noch palliativ behandeln, also nicht mehr heilen könnte. Auch die Begleiterscheinungen der Chemo machten ihr zu schaffen. Aber das, was sie völlig aus dem Gleichgewicht brachte, das, was ihr mehr als alles andere den Boden unter den Füßen wegzog, war das Verhalten ihres Mannes. Natürlich war auch er bestürzt über die schlechte Prognose, und sie hatte ihn einmal auch weinen sehen, heimlich, als er dachte, sie sei in einem anderen Zimmer. Aber mit ihm zu reden war unmöglich. Jedes Mal, wenn sie davon anfing, was noch zu regeln sei, was vielleicht auf sie zukäme und wie beide damit umgehen könnten, war er völlig verschlossen und wandte sich ab, als wolle er fliehen. Wenn sie traurig war und weinte, tätschelte er hilflos ihre Hand und sagte nur »das wird schon wieder«, »Ärzte können sich auch irren« oder »du wirst sehen, in ein paar Jahren lachen wir darüber«.
Er brachte ihr Blumen und versorgte sie, wenn sie nach der Chemo völlig erschlagen im Bett lag und nichts tun konnte. Er kümmerte sich um die Einkäufe, ums Kochen, um den Abwasch. Er erzählte von seiner Arbeit im Büro, von interessanten Meldungen aus der Zeitung, fragte, worauf sie Appetit hätte. Nur über das, was für beide eigentlich allgegenwärtig war, verlor er kein einziges Wort. Irgendwann sagte auch sie nichts mehr, weil sie merkte, wie ihn das belastete. Die Frau fühlte sich ausgerechnet von dem Menschen, der ihr am nächsten stand, völlig unverstanden und verlassen und nutzte die Stunden mit ihren Leidensgenossinnen, um endlich über das zu sprechen, was sie wirklich beschäftigte.
Auch Ava hat mit ihrer Familie in Afghanistan über ihre Krankheit jahrelang nicht gesprochen. Ihrer Mutter verschweigt sie bis heute, dass sie schwer krank ist, sie will die alte Frau schonen, stellt aber auch immer wieder fest, dass »man« in ihrem Land über eine Krankheit wie Krebs einfach nicht spricht. »Das ist in unserer Kultur ein absolutes Tabu«, sagt sie. In ihrer Heimat wird das Wort noch nicht einmal in der eigenen Sprache in den Mund genommen, so als brächte es Unglück über den, der es ausspricht. Wenn es sich gar nicht vemeiden ließe, darüber zu reden, dann werde der englische Begriff »cancer« verwendet.
Ihrer Schwester, mit der sie immer ein besonders enges, vertrautes Verhältnis hatte, hat sie vor zwei Jahren davon erzählt. Aber selbst sie, eine Ärztin, würde inzwischen sofort abblocken, wenn bei einem Telefonat die Sprache auf Avas Erkrankung käme. »Sie fängt sofort an zu weinen, sagt, dass sie für mich betet und bestimmt alles gut wird. Dabei weiß sie doch, dass das nicht stimmt.« Es ist schon so schwer für sie, so weit weg von zu Hause zu sein, aber in solchen Momenten fühlt sie sich besonders allein und entwurzelt.
Wenn eine Wahrheit nicht als solche anerkannt wird, wenn Menschen, die einem nahestehen, die Realität einer schweren, todbringenden Krankheit einfach ignorieren, dann kann der Betroffene das als Vertrauensbruch empfinden. Diejenigen, die doch eigentlich zu einem halten sollten, lassen ihn vermeintlich im Stich. So empfindet das auch der kleine leukämiekranke Oskar in Eric-Emmanuel Schmitts wunderbarem Büchlein Oskar und die Dame in Rosa. Er hat nur noch wenige Wochen zu leben und weiß das. Und er weiß auch, dass seine Eltern es wissen, aber die fliehen vor dieser Tatsache und damit letztlich auch vor ihrem kleinen Sohn. Er fühlt sich verraten: »Warum sagen sie mir nicht ganz einfach, dass ich sterben werde? (…) Sie fürchten sich vor mir. Sie trauen sich nicht, mit mir zu reden. Und je weniger sie sich trauen, umso mehr komm ich mir wie ein Monster vor.« Den Eltern fehlt schlicht der Mut, mit ihrem Kind zu sprechen, er soll sie nicht in diesem Zustand sehen. Aber für Oskar ist dieses Leugnen und die Vermeidung des Kontakts zu ihm kaum zu ertragen. Er sieht nicht die Verunsicherung und Verzweiflung seiner Eltern, sondern nur ihre Feigheit, und er fühlt sich von ihnen in seiner Krankheit nicht mehr angenommen. »Meine Krankheit ist ein Teil von mir«, sagt der kleine Junge, oder »können sie nur einen Oskar liebhaben, der gesund ist?« 21
»Auch das ist unsere
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