Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
passiert ist. Tariks Schwester hatte unten im Hausflur ungeduldig auf ihn gewartet. Dann hatte sie erst schnelles Laufen auf der Treppe gehört und danach nichts mehr – Stille. Sekundenbruchteile später schlug ihr Bruder vor ihr auf den Steinboden auf. Ein anderer Gast konnte berichten, dass Tarik eilig die Treppe an ihm vorbei hinuntergelaufen war, dann plötzlich ins Straucheln kam, über das Geländer stürzte und verschwand. Sechs Meter war Tarik in die Tiefe gestürzt, auf den Kopf, vor die Füße seiner Schwester. Er habe mit offenen Augen dagelegen und gelächelt, erzählte sie ihm später, und aus seinem Kopf sei Blut gelaufen. Für sie war das damals ein wahr gewordener Alptraum, der sie heute noch verfolgt. Bei Tarik ist das alles aus dem Gedächtnis gelöscht, auch die entsetzlichen Schmerzen, die er gehabt haben muss, denn seine Verletzungen waren massiv: fünf Knochenbrüche alleine im Gesicht, Schädelbasisbruch, gebrochene Rippen und abgerissene Sehnen. Zum Glück war das Krankenhaus ganz in der Nähe, fünf Tage lang haben die Ärzte dort um sein Leben gekämpft. Wenn er jemals wieder zu sich kommen würde, hatten sie Tariks Familie gesagt, dann müssten sie damit rechnen, dass er nicht mehr er selbst, dass er geistig stark eingeschränkt sein würde.
Irgendwann in diesen Tagen muss er sein Nahtoderlebnis gehabt haben, und er ist immer noch überwältigt, wenn er davon erzählt. Ein Erlebnis sei das gewesen, für das die Sprache keine Worte bereithält. Was ihm da widerfahren ist, sei mehr-, sei überdimensional gewesen, etwas, das man eigentlich mit allen Sinnen vermitteln müsste, weil jede Beschreibung hinter dem zurückbleibt, was er tatsächlich erlebt habe.
Tariks Schilderungen decken sich in vielen Punkten mit den Nahtoderlebnissen anderer Menschen. Solche Phänomene sind schon in der Vergangenheit beschrieben worden. In den letzten Jahrzehnten allerdings häufen sie sich, seit es der Intensivmedizin immer öfter gelingt, Menschen von der Schwelle zum Tod ins Leben zurückzuholen – nach einem Herzstillstand, Schädel-Hirn-Traumata oder Komplikationen bei einer Operation.
Über die Jahrhunderte hinweg, überall auf der Welt gleichen sich die Beschreibungen. Man kann wohl davon ausgehen, dass dieses Erleben nicht an kulturelle Gegebenheiten, an religiöse Vorstellungen, Alter oder Geschlecht gebunden ist, sondern ein physiologischer oder psychologischer Prozess ist, der bei allen Menschen in einer solchen Situation ähnlich abläuft. Bei allen Unterschieden im Detail ist immer von diesem hellen, leuchtenden Schein, von Lichtvisionen die Rede. Manche rasen diesem Licht durch einen dunklen Tunnel entgegen, andere beschreiben ein Schweben in völliger Ruhe und Gelassenheit. Häufig begegnen sie Gestalten, manchmal sind es verstorbene Angehörige, die auf sie warten. Und immer ist da dieses unbeschreibliche Glücksgefühl, das alles völlig durchdringt, ein Empfinden von Liebe und Erfüllung, das keinem irdischen Gefühl gleiche. Viele berichten davon, sie hätten ihren Körper verlassen und von oben auf sich selbst herabgeschaut, auf dem Operationstisch, im Krankenbett auf der Intensivstation mit all den Apparaten und Schläuchen. Sie konnten berichten, was während des Nahtoderlebnisses mit ihnen geschehen ist, sogar Situationen in anderen Räumen schildern. Andere sahen eine Art Lebensfilm, in dem die wichtigsten Momente der Vergangenheit noch einmal blitzartig an ihnen vorübergezogen seien, eine Art Lebenspanorama im Zeitraffer. Manche erlebten es als Seelenflug, andere wie eine Vision, als einen Zustand, in dem sich das Bewusstsein völlig vom Körper gelöst habe, aber fast alle haben es als völlig angstfreien Übergang empfunden, als eine Sterbeerfahrung, die ihnen die Furcht vor dem Tod genommen hätte.
Sind das nun Halluzinationen, Wahnvorstellungen oder Rauschzustände, ausgelöst durch Sauerstoffmangel im Gehirn oder die Ausschüttung von körpereigenen Opiaten wie Stresshormonen? Eine Reihe ernstzunehmender, seriöser Wissenschaftler, die sich mit dem Phänomen der Nahtoderfahrung intensiv befasst hat, hält solche Erklärungen nicht für ausreichend. Vielleicht verstehen wir das Gehirn einfach noch nicht gut genug, um solche Erlebnisse wirklich erklären zu können, meint beispielsweise der niederländische Kardiologe und Wissenschaftler Pim van Lommel. Aus seiner Sicht ist das menschliche Bewusstsein nach wie vor ein Rätsel, über dessen Entstehung wir bis heute nicht
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