Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
Menschen im Zugehen auf den Tod alle diese Phasen durchlaufen, jedenfalls nicht sicht- und spürbar und fast nie in dieser Reihenfolge.
Auch für die Psychotherapeutin Monika Renz, die Hunderte von Menschen beim Sterben begleitet hat, bleibt das Phasen-Modell von Kübler-Ross »hinter dem Geheimnis des Sterbens zurück« 24 . Sie sieht Sterben als einen Prozess der Wandlung. Das »Ich« zieht sich zurück und geht nach und nach verloren. Alles ich-bezogene Empfinden und Denken (ich sehe, ich fühle, ich habe Angst, ich habe Schmerzen) löst sich auf, und der Sterbende wechselt in einen anderen Bewusstseinszustand, zu einer anderen Wahrnehmungsweise. Dieser Wandel vollzieht sich wie jeder seelisch-geistige Prozess aber nicht geradlinig, sondern sprunghaft und wechselt, so Monika Renz, zwischen drei Zuständen, zwischen denen sich der Sterbende mehrfach hin und her bewegt: Der erste Zustand ist das »Davor«. Es ist die Phase des Abschiednehmens, des allmählichen Rückzugs, eine Zeit von Schmerzen, Durst und Übelkeit, die für den Betroffenen, aber auch für Angehörige und Sterbebegleiter bedrohlich und besonders aufwühlend ist. Hier »hilft nur die ›Kapitulation‹ – einwilligen, loslassen, aufgeben«, sagt Monika Renz.
Das Loslassen findet nach ihrem Sterbemodell in der zweiten Phase des »Hindurch« statt, das mit einer Geburt vergleichbar ist. Der Mensch geht über eine unsichtbare Bewusstseinsschwelle mehrfach hin und her. Es ist ein Zustand, der nach außen meist nur durch körperliche Symptome wahrgenommen wird, mit »Schaudern, Schwitzen, Frieren« und einer »Urangst«. Das Zeitgefühl verändert sich, die Umgebung wird unwichtiger. Oft wird in dieser Phase von Desorientierung, Verwirrung und Wahnvorstellungen berichtet. Aber ein Mensch, der stirbt, denkt nicht mehr rational und logisch, und entsprechend wird manches, was er sagt, für uns verwirrend klingen. Aber nur, weil wir ihn nicht mehr verstehen, heißt das nicht, dass der Sterbende etwa schon weggetreten oder im Delirium ist. In diesen ersten beiden Phasen kann die Palliativmedizin eine wichtige und entscheidende Hilfe sein, bis hin zur vorübergehenden Sedierung, um diesen »Durchgang« zu erleichtern.
Im letzten Stadium vor dem Tod tritt der Sterbende in eine Phase der Ruhe und Gelassenheit ein. Das »Danach« ist ein Zustand, in dem eine völlig andere, eine sehr friedvolle Atmosphäre herrscht, eine Stimmung jenseits der Zeit. »Darum«, sagt Monika Renz, »sind diese Momente ewig.« 25
Tatsächlich habe ich vieles beim Abschied von meinem Vater so oder ähnlich erlebt, neben der körperlichen Auflösung auch diesen Prozess des Bewusstseinswandels, das Überschreiten einer Schwelle in einen Zustand jenseits von Angst und Schmerz. Die letzten Stunden mit meinem Vater sind mir als etwas im Gedächtnis geblieben, das ich nicht fassen und beschreiben kann.
Gibt es ein »Danach«?
Der Tod ist ein Spiegel, in dem der ganze Sinn
des Lebens reflektiert wird.
Sogyal Rinpoche
Meine Mutter war eine sehr kluge Frau und liebevolle Mutter, mit der ich stundenlang über alles sprechen konnte, was mich bewegte. Und so haderte ich sehr mit ihrer Alzheimer-Erkrankung, die mir meine Mutter im Laufe der Jahre mehr und mehr nahm. Dieser schleichende Abschied war nicht einfach – für keinen von uns. Anfangs hat auch meine Mutter mit aller Kraft gegen den Verfall angekämpft, sich ihm zornig widersetzt, aber irgendwann hat sie ihre Niederlage demütig hingenommen. Ich selbst war dagegen manchmal richtig wütend darüber, dass sie nicht mehr der Mensch für uns sein konnte, der sie jahrzehntelang gewesen war, ich habe sie schrecklich vermisst. Irgendwann aber habe ich begriffen, dass alle Versuche scheitern mussten, sie in unsere Welt zurückzuholen. Die schönsten gemeinsamen Momente haben wir zuletzt immer dann erlebt, wenn es mir gelungen ist, in ihre Welt vorzudringen, in diese Welt ohne Erinnerungen, die trotzdem nicht leer, sondern voller Empfindungen und Eindrücke war. Mein Bruder Georg beschrieb das in seiner Ansprache bei der Beerdigung unserer Mutter als eine »Gestaltung der Welt nach eigenen Regeln«, als eine Welt, in der Gegenwart und Vergangenheit eins waren für sie und in der sie glücklich war.
Je mehr es uns gelungen ist, ihre Krankheit zu akzeptieren, desto deutlicher konnten wir erkennen, dass sie sich bis zuletzt treu und eigentlich immer sie selbst geblieben ist, voller Würde und Freundlichkeit. Ihre Möglichkeiten, uns ihr
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