Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
Ängste und Zweifel kennen keineswegs nur diejenigen, die nicht an einen Gott glauben. Sie können durchaus auch Gläubige befallen, weiß Karl Kardinal Lehmann. Es sei durchaus nicht so, dass Sterben für sie leichter sei. Angesichts der Auslöschung seines irdischen Seins kann jeder Mensch verzweifeln. »Da kann man ganz nah am Unglauben sein.«
Seine Eltern sind nach einem langen und erfüllten Leben gestorben, beide in den Achtzigern. Aber beim Tod seiner Mutter war er in Istanbul und erhielt die Nachricht telefonisch. Das habe ihm sehr zugesetzt, sagt er. Und sein einziger Bruder, jünger als er, musste viel zu früh gehen. Vor fünfzehn Jahren starb er innerhalb weniger Wochen einen schrecklichen Krebstod und hinterließ eine Familie mit Kindern. Da hadert auch ein gläubiger Christ mit dem »Skandal des Todes«, auch ein Kardinal, der dem Tod schon oft begegnet ist – als Angehöriger, aber auch als Seelsorger und Begleiter, als Theologe und Philosoph, als Verzagter und als Hoffender. »Auch ich muss mich in jeden einzelnen Tod, jeden Abschied hineinfinden«, sagt Kardinal Lehmann. »Auch für mich ist der Tod ein Rätsel, das man vermutlich nie entziffern wird.« Und auch er kennt die Fragen: »Wo bist Du, Gott? Wo bist Du, wenn Unrecht geschieht? Wo bist Du in schwerer Krankheit? Wo bist Du, Gott, im Tod?«
Für meinen Vater war der Glaube sein Leben lang ein wichtiger Begleiter. Als gutkatholischer Schwarzwälder Bub gehörten Gebete und der sonntägliche Kirchgang zu seiner Kindheit so selbstverständlich dazu wie Essen und Trinken. Schon bei seiner Mutter, meiner Großmutter, hatte ich erlebt, wie viel Stärke und Zuversicht sie aus ihrem Vertrauen in Gott und ihren Glauben zog. Sie war das, was man einen »frohen Christenmenschen« nennen würde. Ich kann mich allerdings noch an ein Gespräch erinnern, ein, zwei Jahre vor ihrem Tod, als sie ernsthaft krank war und ganz blass fast zwischen den Kissen verschwand. Wir redeten darüber, woran sie glaubte und was nach dem Tod wohl sein würde. Und da fragte sie mich aus heiterem Himmel: »Was, wenn das alles gar nicht stimmt?« Mich hat ihr plötzlicher Zweifel damals richtig erschüttert, weil ich gedacht hatte, wenn einer sicher weiß, was ihn erwartet, dann ist das deine Odi. Welchen Raum diese Zweifel zuletzt bei ihr einnahmen, kann ich nicht sagen. Wir haben nie mehr davon gesprochen. Aber ihr lieber Gott war gnädig mit ihr. Sie ist während eines Mittagsschläfchens gestorben in Vorfreude auf die Fernsehübertragung eines Fußballspiels.
Bei meinem Vater bin ich fast sicher, dass auch er von Zweifeln heimgesucht wurde, Glaubenskrisen kannte. Aber Glauben hieß für ihn Vertrauen und er hatte sich dafür entschieden, zu vertrauen. Als ich ihn wenige Tage vor seinem Tod fragte, ob er Angst habe, reagierte er sehr gelassen: Nein, Angst habe er nicht. Er gehe davon aus, dass sich sein Glaube erfüllen werde. Und dann setzte er noch, fast flapsig, hinterher: »Wenn nicht, dann bekomme ich es sowieso nicht mehr mit.«
Am Tag vor seinem Tod allerdings bat er mich, ihm ein Gedicht vorzulesen, ein Gebet von Justus Delbrück, der als Mitglied des Widerstands gegen Hitler 1944 von der Gestapo verhaftet wurde, aber erst nach dem Krieg in einem russischen Internierungslager starb. Es ist ein Ruf nach Hilfe, der von Untröstlichkeit und Zweifeln, aber auch von Hoffnung zeugt.
In den Tiefen, die kein Trost erreicht,
lass doch deine Treue mich erreichen.
In den Nächten, da der Glaube weicht,
lass nicht Deine Gnade von mir weichen.
Auf dem Weg, den keiner mit mir geht,
wenn zum Beten die Gedanken schwinden,
wenn die Finsternis mich kalt umweht,
wollest du in meiner Not mich finden.
Wenn die Seele wie ein irres Licht
flackert zwischen Werden und Vergehen,
wenn des Geistes Kraft in mir zu nichts zerbricht,
wollest du an meinem Lager stehen.
Wenn ich deine Hand nicht fassen kann,
nimm die meine doch in deine Hände,
nimm dich meiner Seele gnädig an.
Führe mich zu einem guten Ende.
Für Karl Kardinal Lehmann liegt die Suche nach Antwort im Gebet und der Trost im Wort Gottes, dessen Name Yahweh bedeutet »ich bin da« und der verspricht: Ich bleibe immer bei dir (Psalm 73, 23). »Wir sind nicht allein, nie. Die Frage ist nur, kann man diese Antwort annehmen, ist man bereit, sie zu hören?« Manchmal sind wir schwerhörig, manchmal auch vergesslich. Und auch ein im Glauben verwurzelter Mensch erliegt immer wieder, wie wir alle, der Versuchung, den Tod zu
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