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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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einem Sixpence auf dem Kopf, im nächsten Augenblick Großvater. Ich sah die Häuserdächer des Wohnviertels, das sich unterhalb der Straße erstreckte, und dachte an die Zeit zurück, in der ich als Sechzehnjähriger nachts des Öfteren im Überschwang meiner Gefühle zwischen ihnen umhergelaufen war. Als alles, was ich sah, sogar ein rostiger, windschiefer Wäscheständer in einem Garten, sogar verfaulte Äpfel auf der Erde unter einem Baum, sogar ein in eine Persenning gepacktes Boot, vor Schönheit brannte. Ich sah die Grasböschung hinter den Gebäuden auf der anderen Seite und entsann mich eines blauen und kalten Wintertags, an dem wir dort mit Großmutter Schlitten gefahren waren. Es gab einen solchen funkelnden Widerschein von Sonnenstrahlen im Schnee, dass die Helligkeit den Lichtverhältnissen im Hochgebirge ähnelte und die Stadt unter uns deshalb so wundersam offen wirkte, dass alles, was geschah, die Menschen und die Autos, die in den Straßen unter uns vorbeikamen, der Mann, der die Auffahrt vor dem Vereinsheim auf der anderen Straßenseite vom Schnee befreite, die anderen Schlitten fahrenden Kinder, nirgendwo verankert zu sein schienen, sondern einfach unter dem Himmel schwebten. All das lebte in mir, als ich die Straße hinunterging, all das ließ mich die Umgebung sehen und bedenken, allerdings nur oberflächlich, nur in der äußersten Schicht meines Bewusstseins, denn Vater war tot, und die dadurch in mir entstandene Trauer strahlte in alle Gedanken und Gefühle aus und rief sie zurück. Er existierte auch in den Erinnerungen, war dort seltsamerweise jedoch unwichtig, der Gedanke an ihn löste dort nichts aus. Vater, der irgendwann Anfang der siebziger Jahre einen Meter vor mir auf dem Bürgersteig ging, wir waren im Kiosk gewesen und hatten Pfeifenreiniger gekauft und wollten zu Großvater und Großmutter, wie er das Kinn hob und dabei den Kopf irgendwie hochschob, wobei er in sich hineinlächelte, die Freude, die ich dabei empfand, oder Vater in der Bank, wo er das Portemonnaie in der einen Hand hielt, sich mit der anderen durchs Haar strich, sein Spiegelbild in der Glasscheibe vor der Kasse betrachtete, oder Vater im Auto auf dem Weg aus der Stadt: in keiner einzigen dieser Erinnerungen nahm ich ihn als eine wichtige Person wahr. Will sagen, als ich es damals erlebte schon, aber nicht jetzt, wenn ich zurückdachte. Mit dem Gedanken, dass er tot war, verhielt es sich anders. Darin war er natürlich alles, aber dieser war auch alles, denn als ich durch den leichten, nieseligen Regen ging, hatte ich das Gefühl, mich in einer Zone zu befinden. Was außerhalb ihrer lag, war belanglos. Ich sah, ich dachte, und daraufhin wurde, was ich sah und dachte, zurückgezogen: Es zählte nicht. Nichts zählte. Nur Vater, dass er tot war, zählte.
    Während ich dort ging, war ich mir darüber hinaus des braunen Umschlags bewusst, der die Sachen enthielt, die er bei seinem Tod bei sich gehabt hatte. Vor dem Lebensmittelgeschäft gegenüber der Apotheke blieb ich stehen, drehte mich zur Wand und holte ihn heraus. Ich betrachtete den Namen meines Vaters. Er wirkte fremd. Ich hatte Knausgård erwartet. Aber es war natürlich korrekt, diesen lächerlichen und pompösen Namen hatte er bei seinem Tod getragen.
    Eine ältere Frau mit einem Einkaufswagen in der einen Hand und einem kleinen weißen Hund an der anderen sah mich an, als sie aus der Tür kam. Ich trat einen Schritt näher zur Wand und schüttelte den Inhalt in meine Hand. Sein Ring, ein Halsschmuck, ein paar Münzen, eine Nadel. Das war alles. An sich so alltäglich, wie Gegenstände nur sein können. Die Tatsache jedoch, dass er sie getragen, dass der Ring an seinem Finger gesteckt, der Schmuck bei seinem Tod um seinen Hals gehangen hatte, verlieh ihnen eine ganz eigene Aura. Tod und Gold. Ich drehte sie einzeln in der Hand, und sie erfüllten mich mit Unbehagen. Ich stand da und ängstigte mich vor dem Tod wie damals als Kind. Nicht davor, dass ich sterben würde, sondern vor den Toten.
    Ich legte die Dinge in den Umschlag zurück, steckte ihn wieder in die Tasche, lief in der Lücke zwischen zwei Autos über die Straße, betrat den Kiosk und kaufte eine Zeitung und einen Lion-Schokoriegel, den ich aß, während ich die letzten zweihundert Meter zum Haus hinaufging.
    Selbst nach all den Dingen, die dort vorgefallen waren, hingen noch Reminiszenzen des Geruchs in der Luft, an den ich mich aus meiner Kindheit entsann. Schon damals grübelte ich über das

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