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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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ansonsten bis acht, neun Uhr abends keine Mahlzeit zu mir genommen, oder Geld, denn Schüler durften die Busse nur nachmittags unentgeltlich benutzen, und mir fehlte des Öfteren das nötige Kleingeld, um die Fahrkarte selbst zu bezahlen. Im Grunde hatten sie nichts dagegen, mich mit Geld und Essen zu versorgen, aber es provozierte sie wahrscheinlich, dass ich diese Dinge tatsächlich brauchte und sie folglich keine Wahl hatten: Das Essen und das Geld für den Bus waren keine freiwilligen Gaben mehr, sondern etwas anderes, und dieses andere hatte Folgen für unsere Beziehung, knüpfte ein Band zwischen uns, das sie nicht guthießen. Damals verstand ich das nicht, heute schon. Mein Wesen, durch das ich ihnen mit meinem Leben und meinen Gedanken ganz nahe kam, war ein Teil desselben Musters. Auch diese Nähe konnten und wollten sie mir vermutlich nicht geben, auch das war etwas, was ich mir von ihnen nahm. Ironischerweise dachte ich während all meiner Besuche immer an sie und sagte stets, was sie, wie ich glaubte, hören wollten, selbst wenn ich besonders persönlich wurde, sagte ich es, weil ich dachte, es wäre gut für sie, es zu hören, und nicht, weil ich es sagen musste.
    Aber das Schlimmste daran, überlegte ich, als ich die Allee Richtung Lund hinunterging, parallel zur nachmittäglichen Autoschlange, vorbei an allen Bäumen, deren Stämme dunkel waren vom Staub des Asphalts und Abgasen, so schwer und steinähnlich im Vergleich zu dem Gewimmel grüner, leichter Blätter in den Kronen über ihnen, war trotz allem, dass ich mich damals für einen Menschenkenner hielt. Das konnte ich, hatte ich mir damals eingebildet, darin war ich gut: andere zu verstehen. Während ich mir selbst eher ein Rätsel war.
    Oh, wie dumm!
    Ich lachte. Unverzüglich blickte ich auf, um zu überprüfen, ob mich jemand in den Autos auf der Straße neben mir beobachtet haben könnte. Aber nein. Alle waren in sich selbst versunken.
    Im Laufe der letzten zwölf Jahre war ich möglicherweise klüger geworden, aber verstellen konnte ich mich immer noch nicht. Weder lügen noch spielen. Deshalb hatte ich den Kontakt zu Großmutter nur zu gerne Yngve überlassen. Jetzt konnte ich mich allerdings nicht mehr drücken.
    Ich blieb stehen und zündete mir eine Zigarette an. Als ich weiterging, war ich aus irgendeinem Grund heiter gestimmt. Waren dafür die ursprünglich weißen, aber von Abgasen dunkel verfärbten Häuserfassaden zu meiner Linken verantwortlich? Oder die Bäume der Allee? Diese reglosen, laubbekleideten, luftbadenden Wesen mit ihren zahllosen Blättern? Denn wenn sie mir erst einmal ins Auge fielen, erfüllten sie mich unweigerlich mit Freude.
    Ich inhalierte besonders tief und tippte beim Weitergehen die silbergraue Aschesäule von der Zigarette. Die Erinnerungen, die meine Umgebung in mir wachriefen, als ich mit Yngve zur Kapelle gefahren war, aber nicht an mich herangelassen hatte, holten mich nun mit aller Macht ein. Ich kannte diese Gegend aus zwei Phasen; erstens aus der Zeit, in der ich als Kind bei Großmutter und Großvater in Kristiansand zu Besuch gewesen und mir jedes kleine Detail im Stadtbild abenteuerlich vorgekommen war, und später, als ich als Teenager dort wohnte. Mittlerweile war es Jahre her, dass ich mich dort aufgehalten hatte, und seit meiner Ankunft hatte ich gespürt, dass die Flut aus Eindrücken, die mir dieser Ort vermittelte, teils an die eine Welt aus Erinnerungen, teils an die andere anknüpfte und er folglich in drei getrennten Zeiten gleichzeitig existierte. Ich sah die Apotheke und erinnerte mich, dass Yngve und ich dort einmal mit Großmutter gewesen waren; draußen hatten hohe Schneewälle gelegen, es schneite, sie trug einen Mantel und eine Pelzmütze, stand in der Schlange vor der Ladentheke, in dem angrenzenden Raum dahinter liefen Apotheker in weißen Kitteln hin und her. Ab und zu drehte sie den Kopf, um zu schauen, was wir machten. Nach dem ersten Moment des Suchens, in dem ihr Blick zwar nicht kalt, aber doch zumindest neutral war, lächelte sie, und in ihre Augen trat wie von Zauberhand Wärme. Ich sah den Anstieg zur Lunds-Brücke und erinnerte mich, dass Großvater nachmittags immer aus dieser Richtung mit dem Fahrrad kam. Wie anders er im Freien wirkte. Als hätte das leichte Schwanken, das dem Anstieg geschuldet war, nicht nur für das Fahrrad gegolten, auf dem er saß, sondern auch dafür, wer er war: in einem Augenblick irgendein älterer Einwohner Kristiansands im Mantel und mit

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