Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
Vom Netzwerk:
in den letzten fünfzehn Jahren an Trauer und Elend in mir angehäuft hatte, heraus. Das spielte keine Rolle, nichts spielte eine Rolle, ich ging nur durch den Garten und schlug das Gras, es war zu hoch geworden.
    Viertel nach drei schaltete ich die Höllenmaschine ab, stellte sie in den Verschlag unter der Veranda und ging hinein, um zu duschen, bevor wir fuhren. Holte Kleider, Handtuch und Shampoo vom Dachboden, legte alles auf den Toilettendeckel, schloss die Tür ab, zog mich aus, stieg in die Badewanne, richtete den Duschkopf fort von mir und drehte das Wasser auf. Als es heiß geworden war, drehte ich den Duschkopf wieder in meine Richtung, und das heiße Wasser floss an mir herunter. Normalerweise war dies mit einem wohligen Gefühl verbunden, an diesem Tag jedoch nicht, nicht hier, und nachdem ich mir in Windeseile die Haare gewaschen und ausgespült hatte, drehte ich das Wasser deshalb wieder ab und stieg nach draußen, trocknete mich ab und zog mich an. Rauchte eine Zigarette auf der Eingangstreppe, während ich darauf wartete, dass Yngve herunterkam. Mir graute es, und als er die Autotür aufschloss, sah ich seinem Gesicht über dem Dach des Wagens an, dass es ihm genauso ging.
    Die Kapelle lag jenseits des Gymnasiums, das ich besucht hatte, schräg hinter der großen Sporthalle, und den Weg, den wir dorthin nahmen, war ich das halbe Jahr über gegangen, das ich in der Wohnung meiner Großeltern in der Elvegaten verbracht hatte, aber der Anblick der vertrauten Orte weckte nichts in mir, und vielleicht sah ich sie zum ersten Mal, wie sie wirklich waren, sinnentleert, ohne Atmosphäre. Hier ein Drahtzaun, dort ein weiß gestrichenes Haus aus dem 19. Jahrhundert, ein paar Bäume, ein paar Sträucher, etwas Rasen, eine Schranke, ein Schild. Die gesetzmäßigen Bewegungen der Wolken am Himmel. Die gesetzmäßigen Bewegungen der Menschen auf der Erde. Der Wind, der die Äste anhob und die tausenden Blätter in ebenso unvorhersehbaren wie unfreiwilligen Mustern erzittern ließ.
    »Du kannst hier reinfahren«, sagte ich, als wir am Gymnasium vorbei waren und die Kirche hinter der Einfriedungsmauer vor uns stehen sahen. »Es ist da drüben.«
    »Ich bin hier schon mal gewesen«, meinte Yngve.
    »Ach ja?«, sagte ich.
    »Irgendeine Konfirmation. Du warst auch dabei, oder nicht?«
    »Daran kann ich mich nicht erinnern«, erklärte ich.
    »Ich schon«, sagte Yngve und lehnte sich ein wenig vor, um besser sehen zu können.
    »Ist der Parkplatz dahinter?«
    »Müsste er eigentlich sein«, sagte ich.
    »Wir sind zu früh«, sagte Yngve. »Es ist erst Viertel vor.«
    Ich stieg aus dem Wagen und schloss die Tür. Hinter der Feldsteinmauer näherte sich uns ein Rasenmäher, der von einem Mann mit nacktem Oberkörper gelenkt wurde. Als das Gefährt kaum mehr als fünf Meter entfernt an uns vorbeifuhr, sah ich, dass er eine Silberkette um den Hals trug, an der etwas hing, das wie eine Rasierklinge aussah. Im Osten, über der Kirche, hatte sich der Himmel verdunkelt. Yngve zündete sich eine Zigarette an und machte einen Schritt auf den Platz.
    »Ja, ja«, sagte er. »Da wären wir also.«
    Ich schaute zur Kapelle. Über der Eingangstür brannte, im Tageslicht fast unsichtbar, eine Lampe. Daneben parkte ein rotes Auto.
    Mein Herz schlug schneller.
    »Ja«, sagte ich.
    Am weiterhin hellgrauen Himmel kreisten hoch über uns einige Vögel. Der niederländische Maler Ruisdael malte an seine Himmel stets Vögel in großer Höhe, um die Tiefe herauszuarbeiten, es war fast schon sein Markenzeichen, jedenfalls hatte ich die in dem Buch über ihn, das ich besaß, in all seinen Bildern gesehen.
    Die Unterseiten der Bäume hinter uns waren fast vollkommen schwarz.
    »Wie viel Uhr ist es?«, sagte ich.
    Yngve warf irgendwie den Arm nach vorn, so dass der Jackenärmel zurückglitt und er auf das Zifferblatt schauen konnte.
    »Fünf vor. Sollen wir reingehen?«
    Ich nickte.
    Als wir noch zehn Meter von der Kapelle entfernt waren, ging die Tür auf. Ein junger Mann in einem dunklen Anzug sah uns an. Sein Gesicht war braun gebrannt, die Haare blond.
    »Knausgård?«, sagte er.
    Wir nickten.
    Er gab uns beiden die Hand. Die Haut an seinen Nasenflügeln war gerötet und wirkte gereizt. Die blauen Augen waren abwesend.
    »Sollen wir reingehen?«, sagte er.
    Wir nickten erneut. Gelangten zunächst in einen Flur, wo er stehen blieb.
    »Es ist hier drinnen«, sagte er. »Aber bevor wir hineingehen, sollte ich Sie wohl besser ein wenig vorbereiten.

Weitere Kostenlose Bücher