Sterben Sie blo nicht im Sommer
infizierten Wunde gehabt hat. [58] Experten gehen davon aus, dass mindestens 170.000 bis 250.000 der sogenannten ›nosokomialen‹ Infektionen (durch den Aufenthalt oder die Behandlung in einem Krankenhaus oder einer Pflegeeinrichtung verursacht) vermeidbar wären, würden Ärzte und Pfleger die Hygienevorschriften korrekt einhalten. [59] Man kann sich gut vorstellen, wie Personalmangel und Infektionsrisiko praktisch seit der Geburt von MRSA wie siamesische Zwillinge zusammengewachsen sind, um dann gemeinsam mit Gleichgültigkeit eine eigene Terrorzelle zu bilden. Eine sehr gut versicherte Freundin, wegen eines komplizierten Beinbruchs längere Zeit in der Privatpatientenstation einer orthopädischen Klinik behandelt, erzählt, wie man beim Essen und bei der Einrichtung fast schon mit Luxushotels konkurrieren will. »Aber die Putzfrau hat mit demselben Lappen, mit dem sie eben noch die Toilettenschüsseln sauber gemacht hat, über die Tische gewischt.« Allerdings: Selbst die allerbesten Vorsätze vorausgesetzt, man kann Hände eben nur eine begrenzte Anzahl pro Tag 30 Sekunden lang mit 70-prozentiger Ethanollösung desinfizieren. »Mehr als 40 Mal ist unrealistisch«, so Alex Friedrich, der als Mikrobiologe und Hygieniker am Klinikum Groningen in Holland arbeitet. In Deutschland, wo eine Pflegekraft auf einer Intensivstation drei Patienten betreut, müsste sich diese Pflegekraft aber 60 bis 150 Mal am Tag die Finger einreiben. Anders in Holland, wo es auf Intensivstationen fast eine Eins-zu-eins-Betreuung gibt. [60] Einer der Gründe, weshalb man in Holland so erfolgreich im Kampf gegen MRSA ist. In den Niederlanden sind weniger als 3 Prozent der Krankenhauskeime resistent. In Deutschland liegt die Zahl bei etwa 20 Prozent. Vermutlich stecken sich die Keime im Ausland Handzettel zu, auf denen steht: »Besuchen Sie das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Kostenloser Transfer inklusive. Und: All you can eat Buffet!«, so leicht macht man es den blinden Passagieren mit der Einreise. Auch in den Körper meiner Mutter.
Von nun an dürfen wir ihr Zimmer nicht mehr ohne Mundschutz, Krankenhauskittel, Latex-Handschuhe und Häubchen betreten. Jedes Mal, wenn wir den Raum verlassen, legen wir all das nicht nur ab, sondern desinfizieren uns selbstverständlich auch die Hände. Es ist ein enorm aufwendiges Procedere, und es muss jedes Mal absolviert werden. Wenn man nur mal eben kurz auf die Toilette will oder sich einen Kaffee holt oder raus auf den Flur geschickt wird, weil die Mitpatientin eine neue Windel bekommt, oder wenn man die Schwestern im Schwesternzimmer darauf aufmerksam machen möchte, dass nebenan schon seit mehr als einer halben Stunde ein Alarm schrillt. Mit Handzeichen, da auf der Station ja offenbar gerade alle taub geworden sind. Sagte ich schon, wie unglaublich heiß dieses Frühjahr ist? Unter den Kitteln entwickeln wir Ganzkörperschweißflecke. Ich komme mit einem hellbeigen Kleid und gehe mit einem dunkelbraunen, klatschnassen Lappen wieder nach draußen. Kleinigkeiten, im Vergleich zu den ganz großen Verlusten: Wir dürfen meine Mutter nun nur noch mit Latexhandschuhen anfassen. Jede Berührung wird dadurch empfindlich gedämpft, jede Zärtlichkeit, jeder Kuss, jede Umarmung. Wir selbst sind verfremdet durch den Mundschutz, die Mimik ist stark eingeschränkt. Ganz zu schweigen von dem deprimierenden Eindruck, den es auf meine Mutter machen muss, als hochinfektiös, als jemand oder schon beinahe ›etwas‹ zu gelten, vor dem man sich unbedingt in Acht nehmen sollte. Es ist mit diesen Gummihandschuhen auch beinahe unmöglich, ihr den immer wieder versteiften linken Arm zu massieren. Da sie MRSA -Trägerin ist, darf sie nun ihr Zimmer nur behängt wie ein Denkmal vor der Einweihung verlassen. Und: Wegen der Infektion wird die sowieso nur zart aufkeimende Beziehung zwischen ihr und der Heilerziehungspflege abrupt beendet. Meine Mutter wird nun an keiner Therapiestunde mehr teilnehmen dürfen. Und sie wird nicht mehr auf die Dachterrasse gefahren. Es ist ihr einfach zu heiß und zu arg, mit all den Schutzmaßnahmen. Sie versteht nicht wirklich, warum sie nun behandelt wird, als hätte sie gerade die Pocken nach Deutschland eingeschleppt. Ja, da ist eine sehr große Diskrepanz zwischen »nicht weiter schlimm!« und den ja nicht geringen Anforderungen, die die Klinik nun in Sachen Prävention stellt. Vor allem an uns Angehörige. Von Seiten der Klinik sieht niemand ein Problem darin, meiner Mutter
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