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Sterben War Gestern

Sterben War Gestern

Titel: Sterben War Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corinna Waffender
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Ich dachte, hier sind wir sicher. Hier würden keine Katastrophen passieren. Die Klinik war für mich so etwas wie ein Schutzraum. Die Gruppe, eine Familie, irgendwie. Jetzt habe ich das Gefühl, die Mauern sind eingestürzt und ich bin genauso ausgeliefert wie vor drei Wochen.“
    Inge Nowak sah von einem zum anderen. Jana hatte etwas ausgesprochen, was alle im Kreis zu verbinden schien: Sie waren restlos erschrocken. Als hätte man sie im Tiefschlaf aus dem Nest geworfen.
    Und plötzlich, als wäre ein Knopf gedrückt worden, begannen einige von ihnen zu weinen. Die einen lauter, die anderen leiser, die Männer verstohlener und die Frauen offenherziger. Man tauschte Kleenex aus, nahm sich gegenseitig in den Arm und strich sich über den Rücken. Die Therapeuten taten nichts, sie sahen bloß zu.
    Na, großartig, dachte Inge. Wenn mich in drei Wochen der Tod einer Fremden ebenso umhaut, dann gute Nacht.
    Die Hauptkommissarin schaltete innerlich den Empfang aus und versank in ihre Gedanken. Sollte sie nicht stabiler werden? Weniger anfällig für Sentimentalitäten? War nicht genau das ihr Problem? Dass sie seit der Autobombe nicht mehr rational denken konnte und zu sensibel auf ihre Umwelt reagierte? Hatte Verónica nicht das gemeint, als sie gesagt hatte: „Hör endlich auf, alles auf dich zu beziehen! Du bist nicht der Nabel der Welt, bloß, weil man dir nach dem Leben getrachtet hat!“
    Jemand stieß sie leicht von der Seite an. Inge schreckte hoch und bemerkte, dass sich die Gruppe offenbar wieder beruhigt hatte.
    „Du hast Angela auch kennengelernt, Inge, nicht wahr?“
    „Wir saßen an einem Tisch und haben einmal zusammen zu Mittag gegessen. Mit Ellen.“ Sie hatte keine Ahnung, warum sie Ellen erwähnte. War es das Bedürfnis, eine von ihnen zu sein? Fehlte nur noch, dass sie ihren Dienstausweis zog und sagte: Ich ermittle im Mordfall Angela Esser, unserer Mitpatientin.
    Die Therapeutin nickte bedeutungsschwanger, als nähme sie an, dass dieses Vorkommnis Inge über alle Maßen beschäftigen könnte. Dann wandte sie sich wieder allen zu und schlug ein schamanisches Ritual zum Loslassen von Verstorbenen vor. Bei dem Wort Ritual sah Inge kurz den Leichnam von Angela Esser auf einer aus Weidenstöcken geflochtenen Bahre liegen, den eine Horde wildgewordener Hippies umtanzte, und sie war froh, kurz darauf in die Horizontale wechseln zu dürfen und statt in fremde Gesichter an die Decke starren zu können. Auch wenn diese überdeutlich schwankte.
    Sie sollten doch bitte daran denken, mehrmals täglich in ihre Fächer zu schauen, um eventuelle Terminänderungen rechtzeitig in Erfahrung zu bringen. Zu Inges Erstaunen befand sich in ihrem Fach ein Briefumschlag, auf dem handschriftlich ihr Vorname geschrieben stand. Darin steckte ein wohl aus einem Notizbuch herausgerissener Zettel mit den Worten: Ich muss dir noch etwas sagen! Bin schon weg, ruf mich an, Ellen. Darunter stand eine Telefonnummer.
    Junge Leute, dachte Inge Nowak. Eine solche Nachricht hätte vor ein paar Jahren auf ihrem Küchentisch liegen können, als Marit noch nebenan wohnte, bevor Verónica dort eingezogen war. Am Anfang hatte Inge die Zettelchenschreiberei vermisst, eine SMS von Zeit zu Zeit war einfach nicht dasselbe. Elektronischen Nachrichten fehlte die Handschrift, der dynamische Schwung der Buchstaben, die Stimmung zwischen den Zeilen: War jemand in Eile gewesen oder hatte die Person in Ruhe geschrieben, steckte etwas Besonderes hinter den Worten oder war es nur eine kleine Geste ohne große Bedeutung? Als ihre Tochter nach zehn Jahren aus der Nachbarwohnung ausgezogen war, bereute Inge es, nicht ein einziges ihrer vielen Papierchen aufgehoben zu haben. Vielleicht hätten sie ihr über den Trennungsschmerz, den sie niemals ausgesprochen hatte, hinweggeholfen.
    Marit hätte allerdings mit Grüßen geendet oder einem netten Wort, nicht abrupt mit dem Vornamen. Es ließ den Satz befehlshaberisch klingen und solche Töne mochte Inge Nowak nicht. Ellen Weyer und sie hatten einander doch kaum gekannt, zweimal hatten sie gemeinsam gegessen und zweimal zusammen eine geraucht. Dabei hatte sie der Journalistin auch noch ihren Beruf verraten. Ausgerechnet! Abgesehen davon gehörte Ellen schon zu den Entlassenen. Wieder zu den anderen, den Gewinnern, die wieder miteifern konnten in dem großen Spiel, das nach den Regeln der Gesunden und der Leistungsfähigen funktionierte. Zählte erneut zu denjenigen, die keinerlei Schwierigkeiten hatten, sich an

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