Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sterben War Gestern

Sterben War Gestern

Titel: Sterben War Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corinna Waffender
Vom Netzwerk:
an zu ermitteln!“
    „Ich? Wie käme ich dazu? Erstens ist das nicht mein Revier und zweitens bin ich psychisch krank.“
    „Du bist nicht psychisch krank, du hast eine Krise.“
    „Wenn alle Menschen, die eine Krise haben, hierherkämen, würden hier Zustände herrschen wie vor drei Jahren.“
    „Wieso vor drei Jahren?“
    „Da war der Weltwirtschaftsgipfel um die Ecke. Man kann sogar den Strandkorb besichtigen, in dem Merkel zwischen Putin und Bush gesessen hat. Freizeitprogramm am Wochenende.“ Inge versuchte witzig zu klingen, aber sie spürte selbst, wie wenig ihr das gelang.
    „So schlimm?“, fragte Verónica leise.
    „Schlimmer. Aber wenn ich jetzt anfange, davon zu erzählen, zieht es mich endgültig runter. Ich habe auch gar keine Zeit mehr, ich muss mich umziehen. Qi-Gong-Gruppe am Strand. Und vorher noch eine rauchen. Auf dem Parkplatz gegenüber. Der Tatort war nämlich der Raucherraum und ist jetzt geschlossen.“
    „Dir bleibt aber auch nichts erspart.“
    „Meinst du jetzt das Turnen oder das Rauchen zwischen Autos?“
    „Beides.“
    Schweigen. Sie hatten den Moment erreicht, in dem es nichts mehr oder alles zu sagen gab.
    „Rufst du mich wieder an?“, fragte Verónica.
    „Ja. Telefonieren im Haus ist übrigens nur auf dem Zimmer erlaubt. Aber ich melde mich.“
    „Pass auf dich auf, ja?“
    Inge hasste diesen Satz und reagierte aus Prinzip nicht darauf. Wenn sie besser hätte auf sich aufpassen können, dann wäre sie mit Sicherheit nicht da gelandet, wo sie jetzt war.
    „Grüß mir die Crew – Ciao!“
    Sie legte auf, noch bevor Verónica etwas darauf sagen konnte. Auf diese Weise konnte sie sich einreden, dass sie die drei Worte, auf die sie schon so lange vergeblich wartete und von denen sie inzwischen nicht einmal mehr wusste, ob sie sie hören wollte, versehentlich weggedrückt hatte.
    Das Handy zeigte 11.39 an, um kurz vor 12 sollte sie umgezogen im Foyer erscheinen. Ihr Koffer lag noch immer unausgepackt mitten im Zimmer, sie hatte für die Nacht nur das Nötigste herausgeholt und am Morgen wahllos nach frischen Sachen gegriffen. Die Sportbekleidung lag unberührt und frisch gebügelt neben den ebenso neuen Turnschuhen. Sie hatte nichts davon ausgesucht, Verónica war für sie einkaufen gegangen, und Inge hatte zu Hause eher unwillig die dunkelblaue Jogginghose, die hellblaue Kapuzenjacke und eins der drei T-Shirts anprobiert, ohne in den Spiegel zu sehen. Das tat sie jetzt, nachdem sie die Schnürsenkel gebunden und den Reißverschluss der Jacke zugezogen hatte. Der Schock war größer, als sie befürchtet hatte. Das letzte Mal hatte sich Inge Nowak derart sportlich gekleidet vor etwa dreißig Jahren während ihrer Ausbildung in der Polizeischule gesehen, ebenfalls in Blau-Weiß. Nur war sie damals eine junge, unverbrauchte Frau mit strahlenden Augen und einem rasanten kurzen Achtziger-Jahre-Haarschnitt gewesen. Was sie jetzt so unverhohlen aus dem Spiegel betrachtete, war so ziemlich das Gegenteil. Ihre Frisur glich einer schlecht sitzenden Perücke Typ Fehlfarben, die Augen lagen matt in dunklen Höhlen, und ihre Haut wies außer tiefen Furchen um den Mund und auf der Stirn den aschfahlen Teint auf, der auf Illustriertenfotos zur Kategorie vorher gehörte. Die Tatsache, dass sie drastisch abgenommen hatte, hatte ihr nicht etwa eine durchtrainiert wirkende Figur beschert, sondern dazu geführt, dass sie einen eingefallenen Eindruck machte. Sie zog die Jacke aus, um sich auch der letzten unvermeidlichen Wahrheit zu stellen. Ihre einst kräftigen Oberarme, mit denen sie mehr als eine Wohnung renoviert und nicht selten den Rückschlag einer Schusswaffe eingesteckt hatte, waren verschwunden. Dort, wo einmal Fett und Muskeln für Spannung gesorgt hatten, hing die Haut schlaff und erinnerte sie überdeutlich an eine gute Bekannte, an die sie in diesem Zusammenhang lieber nicht denken wollte: ihre Mutter.
    „Du siehst grauenvoll aus, Nowak!“, sagte sie laut zum Schrankspiegel. „Das geht so gar nicht.“
    Doch statt in Aktion zu treten, wurde die Patientin in Zimmer 101 von einer großen Welle der Gleichgültigkeit erfasst, die sie Richtung Bett zog. Es war doch vollkommen unwichtig, welches Bild sie abgab. Wen interessierte das schon? Und auch die Vorstellung, derart verkleidet am Strand herumhampeln zu müssen, löste den Impuls aus, einfach die Schuhe abzustreifen, die Hose auszuziehen, nach der Decke auf dem Sessel zu greifen, sich darunter zu verstecken und zu warten, bis

Weitere Kostenlose Bücher