Sterben War Gestern
sehen, hat gesagt, sie muss zu sich finden und das kann sie nur allein. Dabei war doch genau das ihr Problem! Beim zweiten Mal war sie total aufgedreht und wollte unbedingt Auto fahren. Dabei hatte sie fast zwanzig Jahre nicht mehr hinterm Steuer gesessen. Wir haben nur gestritten. Einmal wollte sie dies, dann wieder jenes, war himmelhoch jauchzend und dann wieder zu Tode betrübt. Deshalb hab ich mir ja solche Sorgen gemacht und bin diesmal früher gekommen.“ Er schluckte. „Aber ich hätte niemals gedacht, dass sie sich etwas antut. So war meine Angela nicht. Sie war eine Kämpferin, die ließ sich nicht unterkriegen.“
„Davon gehen wir auch nicht aus.“
Jürgen Esser sah den Kommissar fragend an. „Wovon gehen Sie nicht aus?“
„Ihre Frau hat sich nicht das Leben genommen, sie wurde getötet.“
Für einen Moment regte sich nichts in dem furchigen Gesicht des Mannes. Er starrte Erich Werle an, als verstünde er ihn nicht. Dann lachte er plötzlich blechern auf, erhob sich unsicher, ging zwei Schritte, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und versuchte durchzuatmen. Doch aus seiner Kehle kamen keuchende Laute und er lief auf der Stelle im Kreis, als könnte er sich dadurch selbst Einhalt gebieten.
„Setzen Sie sich bitte wieder“, forderte Werle ihn auf, der mit der Reaktion leicht überfordert war.
Esser tat das Gegenteil. Er lief mit großen Schritten durch den Raum, hin und her, so schnell, dass Sylvia Eberstätter fürchtete, er könne vor Erreichen der gegenüberliegenden Wand nicht mehr abbremsen.
„Sie sollen sich setzen!“, sagte der Hauptkommissar, diesmal etwas lauter und bestimmter und drehte sich fragend zu seiner Kollegin um. Sie zuckte mit den Schultern und flüsterte: „Einen Arzt?“ Ihr Chef schüttelte entschieden den Kopf und stand nun ebenfalls auf.
„Wenn Sie sich jetzt nicht sofort wieder setzen, lasse ich Sie abführen, Mann. Sie stehen unter Tatverdacht, falls Sie das noch nicht bemerkt haben, und Sie tun gerade nicht viel dafür, mich davon zu überzeugen, dass Sie unschuldig sind.“
Bei diesen Worten blieb Jürgen Esser stehen, ließ die Arme sinken, seine Augen verdrehten sich nach oben, er knickte ein, fiel in sich zusammen und schlug hart auf den Boden.
Sensibel wie immer, dachte die Oberkommissarin und beeilte sich, eine Krankenschwester zu holen.
Rechts und links nicht voneinander unterscheiden zu können, half nicht wirklich dabei, wenn man spiegelverkehrt gymnastische Übungen nach Anleitung ausführen sollte. Vorsichtshalber hatte sich Inge Nowak in die hinterste Reihe gestellt und einfach gemacht, was ihr Vordermann tat, der allerdings ebenfalls Schwierigkeiten zu haben schien, einen Kranich darzustellen. Aerobic wäre ihr lieber gewesen als der Versuch, Tierfiguren zu turnen, wobei ‚turnen’ mit Sicherheit nicht das richtige Wort dafür war. Hier ging es um Spannung und Entspannung, wie die Qi-Gong-Lehrerin erklärte, und darum, Energie frei fließen zu lassen. Bei Inge Nowak jedoch floss nichts, nicht einmal der Schweiß, denn dazu war es am Strand noch zu frisch. Auf einem Bein im Sand zu stehen war bei ihren Gleichgewichtsstörungen ebenfalls eine Herausforderung, und so verbrachte sie die halbe Stunde damit, sich hinter dem dicksten Teilnehmer der Gruppe zu verschanzen.
Am Ende war sie die Erste auf dem Parkplatz, die Zigaretten hatte sie vorsorglich in die Tasche ihrer Kapuzenjacke gesteckt. Es erschien ihr seltsam, sich nach all den Jahren der Unabhängigkeit vorschreiben zu lassen, wo sie rauchen durfte und wo nicht. Morgen würde sie einfach außer Sichtweite in Richtung des nah gelegenen Wäldchens spazieren, statt sich zwischen parkenden Autos herumzudrücken. Zum ersten Mal bedauerte es Inge, keinen Wagen dabeizuhaben. Auf diese Weise hätte sie wenigstens über einen Sitzplatz mit Aschenbecher verfügt.
Sie lehnte in einer der Ecken der hölzernen Umzäunung des Parkareals, das ein wenig wie eine Koppel anmutete. Moderne Pferdestärken in altmodischer Manier. Ohne sich zu überlegen, was sie sagen würde, tippte sie Ellen Weyers Nummer in ihr Handy. Kaum war die Verbindung hergestellt, klickte es: „Die gewählte Rufnummer ist zurzeit nicht erreichbar. Sie werden per SMS benachrichtigt, sobald sie wieder erreichbar ist. Dieser Komfort-Service ist für Sie kostenfrei.”
Sicher war Ellen Weyer noch unterwegs, wenngleich es nur wenige Kilometer bis nach Rostock waren. Auch Inge Nowak hatte versucht, ihren Hausarzt davon zu
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