Sterben War Gestern
der Vormittag vorüber wäre. Schon fühlte sie eine erste Erleichterung, als ihr Körper sich anschickte, den Rückzug anzutreten.
Hör auf mit der Selbstmitleidsnummer! Kannst du auch noch irgendetwas anderes als Opfer sein?
Sie hatte nach diesem Satz tagelang kein Wort mehr mit Verónica gewechselt, gedacht, sie würde es keine Stunde mehr Tür an Tür mit ihr aushalten. Der Klang ihrer Stimme, der genervte Unterton und die ungeschminkte Wahrheit waren Inge direkt in die Magengrube gefahren, hatten sie in eine Art gefühllosen Schwebezustand versetzt. Ohne Jacke war sie in die schneidende Berliner Februarkälte hinausgelaufen, am Kanal entlang, solange, bis alles in ihr gefroren war: die Wut, der Schmerz und die Angst. Als sie zurück in die Wohnung kam, war Verónica verschwunden und sie hatte ihr nicht gestehen können, dass sie sich mit dem, was in ihr vorging, selbst am meisten auf die Nerven ging. Seitdem hoffte Inge, Verónica würde es von allein bemerken. Wie sie kämpfte gegen das Aufgeben. Und um den Menschen, der sie gewesen war, bevor ihr das Leben um die Ohren geflogen war.
„Hör auf mit dem Selbstmitleid!“, sagte sie jetzt harsch zu ihrem Spiegelbild und nahm so etwas wie Haltung an. „Und geh zum Friseur!“
Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und eilte im Laufschritt ins Foyer.
Sylvia Eberstätter mochte die Arbeitsmethoden ihres Chefs nicht. Mehr noch: Die Sechsunddreißigjährige mochte Erich Werle nicht besonders. Tagtäglich mit einem Menschen zu arbeiten, für den man wenig Sympathie hegte, hätte manch andere auf Dauer zermürbt. Doch die Oberkommissarin war mit einem schier unverwüstlichen Optimismus auf die Welt gekommen und hatte sich mit der Situation arrangiert. Kriminalhauptkommissar Werle hielt sich für den Starermittler in Mecklenburg-Vorpommern, vor allem seit der vom BKA für 2009 veröffentlichten Kriminalstatistik: Während die Kollegen vom Raubdezernat nur 57% ihrer Fälle hatten aufklären können, glänzte die Abteilung für Mord und Totschlag mit satten 100%. Wer in der Hansestadt tötete, kam nicht ungeschoren davon, und Werle war sich sicher, dass er mit seiner Arbeit dazu den größten Teil beitrug. Mit Mitte Fünfzig hielt er sich für das Vorbild jüngerer Kollegen. Seit Sylvia Eberstätter in seinem Team zusammen mit Timo Heiser die niederen kriminalistischen Tätigkeiten verrichtete, war es nicht ein einziges Mal vorgekommen, dass sich Werle bei den Ermittlungen besonders hätte anstrengen müssen. Im Allgemeinen hinterließen Mörder in seinem Zuständigkeitsbereich unübersehbare Blutspuren, Fingerabdrücke oder Filmaufnahmen, wenn sie ihre Ehepartner, Arbeitskollegen, Rivalen oder Saufkumpanen erschlugen oder erschossen. Die Anzahl der Frauen unter den Tätern war außerordentlich gering. In ihrer gesamten Laufbahn hatte Sylvia Eberstätter nur eine Hausfrau erlebt, die mit Absicht ihren Schwager mit dessen Mercedes überfahren hatte und im Anschluss ohne Zwischenhalt zum Polizeirevier gefahren war, um sich zu stellen.
Werle ging also in allen Fällen erst einmal davon aus, dass der Täter aus dem familiären oder beruflichen Umfeld stammte. Und so war er auch diesmal bereits nach wenigen Stunden davon überzeugt, dass Angela Esser von keinem anderen umgebracht worden war als von ihrem eigenen Mann. Dabei deuteten noch keinerlei Indizien auf dessen Verstrickung in den Fall. Deswegen hätte die Oberkommissarin ihn auch nicht sofort vernommen, was Erich Werle gerade tat. Er hatte sich in einem der Gruppenräume im Untergeschoss eine Art Verhörraum einrichten lassen. Hier saß er mit dem Rücken zum Strandgarten und Blick auf die Tür hinter einem weißen Resopaltisch, vor ihm ein Stuhl, den er Jürgen Esser förmlich angeboten hatte. Sylvia Eberstätter saß etwa einen Meter schräg hinter ihrem Chef und machte sich auf ihrem Notepad Notizen.
„Meine Frau war kerngesund, als sie hierherkam. Also rein körperlich. Sie war bloß in den Wechseljahren und kam mit dem Älterwerden nicht zurecht. Die Kinder sind aus dem Haus, ich war viel unterwegs, und Angela verbrachte zu viel Zeit allein. Sie litt unter Depressionen. Sagten die Ärzte. Und dass es gut wäre, wenn sie eine Weile in eine Klinik ginge. So wie auf Kur. Dachte ich.“
„Und was denken Sie jetzt?“
„Dass das keine Kur war. Die haben sie hier verrückt gemacht! Jedes Mal, wenn ich sie besucht habe, war sie komischer.“
„Wie komischer?“
„Beim ersten Mal wollte sie mich gar nicht
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