Sterben War Gestern
überzeugen, sie in eine Klinik in der Nähe ihres Wohnorts einzuweisen, von denen es in Berlin und Umgebung genügend, auch mit gutem Ruf gab. Er aber hatte darauf bestanden, sie in die Seerose zu schicken: „Sie brauchen Tapetenwechsel, Frau Nowak. Und die gute Luft an der See. Vor allem aber Therapeuten, die etwas von Ihrem Leiden verstehen. Bessere als dort finden Sie in ganz Deutschland nicht. Trauma- und Depressionsspezialisten. Die kriegen Sie wieder hin. Seien Sie froh, dass Sie Beamtin sind. Zweite-Klasse-Patienten warten mindestens ein halbes Jahr auf die Aufnahme, Sie werden bestimmt schon in ein paar Wochen aufgenommen.“
Das war vor zwei Monaten gewesen. Nun war sie hier, bisher hatte noch niemand versucht, sie wieder ‚hinzukriegen’, dafür war bereits ein Mord geschehen, der sie nichts anging. Ob ihr Kollege aus Rostock sie auch vernehmen würde? Ob er alle Patienten befragen wollte? Soweit die Berliner Kommissarin es überblicken konnte, befanden sich mit ihr an die hundert Leute in stationärer Behandlung. Viele von ihnen dürften in der einen oder anderen Gruppe mit Angela Esser zu tun gehabt haben. Inge Nowak ging vor ihrem geistigen Auge ihren Behandlungsplan durch: Wassergymnastik, Tanztherapie, Strandwandern, Yoga, Gruppentherapie – überall war die Tote auf eine andere Konstellation von Menschen getroffen, in der sich ihr Mörder oder ihre Mörderin versteckt haben könnte. Falls er oder sie sich hatte verstecken müssen und nicht von außerhalb kam. Aber wer sollte dazu anreisen, um ausgerechnet hier einen Selbstmord vorzutäuschen? Viel logischer war es doch, eine solche Inszenierung nach Angela Essers Entlassung zu planen, als letzten Ausweg nach einer misslungenen Therapie darzustellen.
Inge Nowak zündete sich eine zweite Zigarette an. Wieso kam sie auf eine solche Idee? War es jene Hintertür, die sie sich insgeheim selbst offenhielt, sollte man ihr hier nicht helfen können? Noch vor einem Jahr wäre ihr Urteil über Selbstmörder anders ausgefallen. Nur Feiglinge, so hatte sie gedacht, brächten sich um und hinterließen verantwortungslos unglückliche Lebenspartner, verschreckte Halbwaisen und verlassene Freunde, die sich ein Leben lang Vorwürfe machen müssten, den Freitod nicht verhindert zu haben. Jedes Problem hatte die Hauptkommissarin, die für ihre hohen moralischen Maßstäbe bekannt war, für grundsätzlich lösbar gehalten: Weglaufen, so hatte sie nicht selten in Verhören betont, sei keine wirkliche Option. Inzwischen hatte sie ihre Meinung geändert. Ein Leben war nicht mehr lebenswert, wenn man sich nicht mehr in die Augen sehen konnte. Sich selbst der größte Feind zu sein, war zugleich eine Kriegserklärung an die anderen. Wer sich hasste, war nicht in der Lage zu lieben, und wer zu lieben verlernt hatte, war allein genug, um seinem Leben ein Ende setzen zu dürfen. Inge Nowak wusste, dass etwas an diesem Gedanken stimmte und doch nicht. Aber er war verführerisch in Momenten des Selbstzweifels. Vielleicht hatte Angela Esser sich ja doch selbst getötet, die Obduktion konnte unmöglich abgeschlossen sein, und was hieß schon dilettantisch? Dass sie zuvor erschossen worden war? Das hätte der Kollege aus Rostock anders ausgedrückt. Dass Fingerabdrücke auf Fremdeinwirkung hindeuteten? Trotz des Brands musste es um den Tatort herum vor Spuren nur so gewimmelt haben. Wenn sie, Inge Nowak, sich im Raucherklub der Fachklinik Seerose hätte verbrennen wollen, hätte sie im ganzen Raum Benzin ausgeschüttet, die Wände und auch die Decke bespritzt, sich schließlich selbst damit getränkt, die Tür abgeschlossen und brennende Streichhölzer in alle Richtungen geworfen, bevor sie sich selbst entzündet hätte. Wahrscheinlich hätte es auf den ersten Blick so ausgesehen, als wäre sie ermordet worden. Im Grunde, dachte Inge, wäre es auch so gewesen, denn zwei Seelen würden sich in einer solchen Nacht getroffen haben. Wer immer sich tötete, so viel wusste sie inzwischen, lag im Widerstreit mit sich selbst, kämpfte erbittert um Leben und Tod und hatte die Schlacht am Ende verloren.
Der grüne Polo war einmal nach Rostock gefahren und befand sich nun wieder auf dem Rückweg. Jens war nicht wie verabredet um halb elf in seiner Wohnung gewesen. Auf ihre Anrufe hatte er fast eine ganze Stunde nicht reagiert. Das war typisch für ihn. Wenn er keine Lust oder Zeit hatte, ging er einfach nicht ans Telefon. Klinkte sich aus. Oder hatte es etwas zu bedeuten? Wollte er
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