Sterben War Gestern
noch ein wenig aus und stehen Sie auf, wenn Sie meinen, dass es an der Zeit ist.“
Die Kriminalhauptkommissarin nahm nur von Ferne wahr, wie der Masseur sie zudeckte und leise die Kabine verließ. In ihr war eine sonderbare Ruhe eingekehrt, die ihre ganze Aufmerksamkeit beanspruchte.
Weiß. Milchig, undurchdringlich, dicht. Dahinter in Watte verpackte Gedanken, die keinen Sinn ergaben. Hatte sie die Augen geöffnet? Waren sie geschlossen? Ihr Körper fühlte sich leicht an, nur der Kopf wog schwer, schien viel zu wuchtig für den schmalen Hals zu sein, immer wieder drohte er zur Seite zu kippen. Sie schwebte aus dem Nebel hinein in eine Landschaft, die sie zu kennen glaubte. Am Horizont schneebedeckte Berge, sanfte, grasbewachsene Hügel, die sie mit den Fersen streifte. Es war still und friedlich, und doch zitterte die Erde. Bei jedem Herzschlag spürte sie unter ihren Füßen eine kleine Erschütterung, als ob sich ein Unwetter näherte. Dabei war der Himmel so blau, dass es fast schmerzte, stählern und unerbittlich klar. In der Ferne ragte ein schroffer Felsen unförmig aus dem Boden, hinter dem sich etwas bewegte. Und nun erkannte sie ihn, wie er da über die Wiese lief: sein kuscheliges Fell, in der Linken einen Milcheimer und die tapsigen Pfoten. Doch etwas stimmte nicht mit dem Bären. Sein Gesicht war unnatürlich nach hinten gedreht, als könnte er mit dem Hals rotieren, sein Hinterkopf war ihr zugewandt, so taumelte er schwerfüßig auf sie zu. Schließlich blieb er einige Meter vor ihr stehen. Aus seiner Kehle drang ein heiseres Grunzen und sein Ausatmen schwärzte die Luft. Sie sah an sich hinunter und stellte fest, dass ihre Beine unnatürlich verrenkt waren und ihre Füße in zusammengezurrten Ballettschuhen steckten. Der Bär stellte seinen Eimer vor ihr ab und eine rote Flüssigkeit schwappte heraus. Dann drehte er langsam seinen Kopf und schon auf halber Strecke erkannte sie, warum er sich abgewandt hatte: Dort, wo die Schnauze und die Augen gewesen waren, klaffte eine große, blutige Wunde. Insekten und Maden tummelten sich darin und fraßen millimeterweise Sehnen, Muskeln und rohes Fleisch. An einigen Stellen hatten sie den Schädel bereits freigelegt und die Knochenfläche schimmerte weiß, unnatürlich sauber. Obwohl nichts von seinen Gesichtzügen übrig geblieben war und trotz des Ekels, der sie bei dem Anblick des Tieres augenblicklich überkam, fühlte sie seine unendliche Traurigkeit. Er schien ihr etwas sagen zu wollen, streckte seine Tatze nach ihr aus, doch mehr als ein von Blut begleiteter Laut sprudelte nicht aus ihm heraus. Sie war wie gelähmt, und plötzlich, ohne Vorwarnung, tat sich vor ihr der Boden auf, ein starker Sog, dem sie nichts entgegenzusetzen hatte, zog sie wirbelnd nach unten, hinein in die Erde, in immer tiefere Gesteinsschichten, durch einen immer engeren Spalt, bis sie schließlich eintauchte in eiskaltes Wasser, dessen zerberstende Oberfläche ihr die Haut vom Leib zu reißen schien.
Das erste, was Ellen Weyer sah, als sie die Augen öffnete, war schlimmer als ihr Traumbild. Vor ihr, in einem nur durch eine Kerze erhellten Verlies saß ein Mann. Er lehnte steif, ein wenig schief an der Wand und starrte sie mit weit geöffneten Augen an. Die Schulterpartie seiner Jacke war nach oben hin verrutscht und bedeckte einen Teil des Kinns, sein Mund stand unnatürlich weit offen.
Der Tod. Vor mir sitzt der Tod.
Sie wagte nicht, sich zu rühren. Sie wagte nicht zu atmen. Spürte nur die eisige Kälte, die sie eben noch für einen Traum gehalten hatte, in jeden Winkel ihres Körpers eindringen. Ihre Hände begannen zu zittern, ihre Knie leicht aneinanderzuschlagen und mit dem metallischen Schmerz, der in ihre Schläfen schoss, stieg die Übelkeit in ihr hoch. Aus einem Reflex heraus drehte sie sich zur Seite und übergab sich. Einmal, zweimal, immer wieder, solange, bis mit dem Würgen nichts mehr aus ihr herauskam und sie erschöpft zurücksank. Dabei streckte sie die Beine aus und ihre Füße stießen unsanft mit denen des Toten zusammen.
Erschrocken fuhr sie zurück, zog die Beine fest an den Körper und vergrub ihren Kopf zwischen ihren Armen. Das hier war kein Albtraum. Zu deutlich der Geschmack im Mund, zu scharf der Schmerz im rechten Arm, zu klar die Umrisse des Körpers ihr gegenüber. Wer war der Mann? Er kam ihr sonderbar vertraut vor, doch seine Umrisse im fahlen Licht und seine Augen, die sie anstarrten, sagten ihr nichts. Wie war sie hierhergekommen? Wo
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