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Sterben War Gestern

Sterben War Gestern

Titel: Sterben War Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corinna Waffender
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war sie? Und was war überhaupt geschehen? Ellen Weyer überlegte angestrengt, doch ihr Gehirn produzierte keine Antworten. Sie konnte sich an nichts erinnern. Nicht einmal an ihren Namen.
    Es war keine bewusste Entscheidung gewesen. Inge Nowak war nur zufällig auf die Haltestelle zugegangen, als der Bus hielt. Rostock , las sie in roten Leuchtbuchstaben über der Windschutzscheibe. Dann stieg sie ein, als hätte sie niemals etwas anderes vorgehabt. Wahrscheinlich waren sämtliche Friseursalons der Stadt am Freitagnachmittag überfüllt, und sie würde Ärger bekommen, weil sie nicht zur Wassergymnastik erschien. Doch keine zehn Pferde hätten die Kommissarin dazu bewegt, sich heute noch im Badeanzug zu zeigen und sich in Chlorwasser zu verrenken. Die Erfahrung eines unkontrollierten Ausbruchs hatte ihr schon bei der Massage gereicht. Seltsam zufrieden und erschöpft war sie danach gewesen, und der Zustand einer gewissen Leichtigkeit hielt immer noch an. Sonst hätte sie ganz sicher keine Fahrkarte in die Hansestadt gelöst, in der sie nach gut zwanzig Minuten ankam. Auf der Fahrt war sie in eine angenehme Müdigkeit eingetaucht, der Bus hatte sie sanft in einen Dämmerzustand geschaukelt, aus dem sie erst erwachte, als der Busfahrer rief: „Endstation!“
    Sie beeilte sich, auszusteigen, und fand sich auf einem aufgeräumt wirkenden Bahnhofsvorplatz wieder. Von dort aus folgte sie den touristischen Wegweisern in die Altstadt, nicht ohne nach einer Post Ausschau zu halten. Sie fragte sich, ob man auf den gelben Ämtern noch immer Einsicht in die örtlichen Telefonbücher nehmen konnte oder ob dieser Service sich durch die Verbreitung internetfähiger Handys erübrigt hatte. Natürlich verfügte sie über ein Smartphone, mit dem sie online gehen konnte, aber erstens hatte sie Schwierigkeiten beim Eingeben von Buchstaben und zweitens zu wenig Geduld, um zu warten, bis der Minibildschirm ein sinnvolles Ergebnis anzeigte.
    Als sie das hinter steinernen Bögen liegende Postamt am Rathaus erblickte, schwand jegliche Energie hineinzugehen, und sie entschied sich kurzerhand, bei einem Espresso ausnahmsweise doch ihr Telefon zu befragen. Sie setzte sich in ein Café und betrachtete die Geschäftshäuser gegenüber, die allesamt für die Fotoaufnahmen der nicht besonders zahlreichen Besucher herausgeputzt schienen. Das ganze Ensemble war zu beschaulich, zu makellos, um Inge Nowak zu gefallen. Es erinnerte sie an ihre Heimatstadt Münster, in der man nach dem Zweiten Weltkrieg die zerbombte Innenstadt im alten Stil wieder aufgebaut hatte. Dabei war es vor allem um die schönen Fassaden gegangen. Hier wie da war wohl vor allem das Äußere von großer Wichtigkeit.
    Der Espresso war zu dünn und lauwarm, und Inge Nowak bedauerte es, keine italienische Eisdiele gefunden zu haben. Sie zückte ihr Handy und suchte im Rostocker Telefonbuch nach dem Namen Weyer: sechs Einträge, darunter einen mit der Vornamensabkürzung E. Die Adresse gab sie gleich in den Routenplaner ein.
    E. Weyer wohnte unweit der Universität, in der Rungestraße. Möglicherweise würde Inge Nowak auf dem Weg dahin über einen hanseatischen Coiffeur stolpern und wenn nicht, könnte sie nach einem besseren Kaffee gemütlich wieder den Rückweg antreten. Der letzte Bus, um nicht zu spät zum Abendessen in der Klinik zu erscheinen, fuhr nach Auskunft des Busfahrers in zwei Stunden. Wenn sie ehrlich war, gab es keinen triftigen Grund, herauszufinden, wo Ellen wohnte. Im Gegenteil. Es war eine völlig absonderliche Idee, und die junge Frau würde sie wahrscheinlich für genauso verrückt erklären, wie sie sich inzwischen fühlte. Inge Nowak war kein Mensch von Übersprunghandlungen, und im Allgemeinen hatte sie sich bestens im Griff. Sie tat nur etwas, was sie in all den Wochen und Monaten nach der Katastrophe nicht wieder aufgegeben hatte, ganz gleich, wie sie sich auch gefühlt haben mochte und was auch geschehen war – sie folgte ihrem Instinkt. Denn genau das hatte sie nach dem ersten Drohbrief von Mannstein nicht getan: auf ihre innere Stimme gehört.
    Vielleicht war das, was Ellen Weyer ihr zu sagen hatte, das alles Entscheidende für ihren Aufenthalt in der Klinik, der Schlüssel zur Genesung oder einfach nur die Warnung, vorsichtig zu sein und den Therapiemethoden auf keinen Fall zu vertrauen. Oder sie interpretierte zu viel in das kleine Zettelchen mit der Telefonnummer hinein. War ihr Ausflug nur ein hysterischer Versuch, sich an etwas Vertrautem zu

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