Sterben War Gestern
Fehler machen. Nicht so kurz vor dem Ziel. Jens und sie mussten schnell sein. Konnte sie sich noch auf ihn verlassen?
Sie sah seinen Wagen schon von Weitem und atmete auf. Am Morgen hatte sie ein ungutes Gefühl beschlichen. Kopfkino, hätte Zikowski gesagt. Dabei hätte sie selbst beinahe alles verpatzt und mit der Kommissarin aus Berlin geredet. Sie hatte sogar einen Zettel in ihr Fach gesteckt und um Rückruf gebeten. Als ob sie sich einer Mitwisserin versichern müsste. Ausgerechnet eine Polizeibeamtin – war sie denn von allen guten Geistern verlassen? Es war eine unerklärliche Angst gewesen, im letzten Moment könnte alles aus dem Ruder laufen, einen Augenblick hatte sie sich vor der eigenen Courage gefürchtet und davor, am Ende ganz alleine dazustehen. An Jens gezweifelt. Wie konnte sie nur?
Ellen Weyer manövrierte ihr Auto neben den großen Geländewagen, der quer vor der Holzhütte geparkt war, und stieg aus.
„Jens?“ Wahrscheinlich war er im Gegensatz zu ihr die Ruhe selbst und hatte schon Kaffee gekocht.
Sie lief um den alten, angerosteten Mitsubishi herum und dann sah sie, dass er noch am Lenkrad saß. Sie beschleunigte ihren Schritt, ihr Herz machte einen kleinen Freudensprung, dann stolperte es und überschlug sich: Jens Wiskamp lehnte schräg am Fahrersitz, seine Beine hingen haltlos aus der Tür, die Arme schlaff am Körper herab, und seine linke Gesichtshälfte, sein Ohr und seine Schulterpartie waren blutüberströmt. Ellen Weyer schlug die Hand vor den Mund, wich erschrocken zurück und steuerte mit dem Rücken direkt auf die Mündung der Pistole zu, aus der eine Kugel ihren Freund kurz zuvor getötet hatte.
Inge Nowak überlegte fieberhaft, wie sie dem nachmittäglichen Termin aus dem Weg gehen könnte.
„Alle Patienten kommen zweimal die Woche in den Genuss einer Wohlfühl-Massage, um die Seele baumeln zu lassen. Sie legen sich einfach hin und genießen. Das gehört natürlich zu den medizinischen Verordnungen, auch wenn es einfach nur schön ist.“
Das war die Antwort Schwester Agathes auf die Frage gewesen, ob die Behandlung in der physiotherapeutischen Abteilung verpflichtend sei.
Sich einfach hinlegen und genießen. Allein der Gedanke, berührt zu werden, entfachte in ihr körperlichen Widerstand, schon bei der Vorstellung von Fingerspitzen auf der Haut zog sich etwas in der Herzgegend zusammen. Unsichtbare Schotten fuhren hoch, wenn die Außenwelt zu nah an ihren Körper herankam. Sie versagte sich Wind und Sonne, sie erlaubte keine Umarmung, keine Zärtlichkeit, keine Leidenschaft, sie verbot sich alles, was angenehme Empfindungen in ihr hätte auslösen können. Der Gedanke, dass Johanna einen Teil ihrer Sensibilität an Armen und Beinen verloren haben könnte, die Gewissheit, dass jede Transplantation eine Narbe hinterließ und jeder Narbe der Schmerz innewohnte, hatte im Laufe der Wochen und Monate dazu geführt, dass Inge Nowak sich schämte, sobald sie sich in ihrer Haut allzu wohl fühlte. Als könnte sie Johannas Zustand lindern, indem sie sich bestrafte.
Nachdem klar war, warum das Auto explodiert war, in dem ihre Tochter gesessen hatte, wollte Susanne Inge nicht mehr sehen. Weder im Kranken- noch im Treppenhaus.
„Wenn du noch einen Funken Anstand besitzt, verschwindest du für immer aus unserem Leben.“
Es war Verónica, die sich hin und wieder nach Johanna erkundigte. Am schwersten waren ihre Gliedmaßen betroffen. Mehrere Hautverpflanzungen waren nötig gewesen, bis das Gewebe soweit hergestellt war, dass es wieder durchblutet wurde und die Selbstheilungskräfte sich entfalten konnten. Besonders kompliziert verhielt sich die Heilung der Beine. Sie waren dem Sprengsatz am nächsten gewesen. Auf wundersame Weise war der Rest des Körpers von den Flammen weitgehend verschont geblieben, wenngleich an einigen Stellen deutliche Brandmale zurückbleiben würden.
In wie vielen Nächten hatte Inge Nowak versucht, sich die Schmerzen einerseits, die Taubheit andererseits vorzustellen und das Eingesperrtsein in eine verletzte Hülle, derer man sich nicht entledigen konnte? Es verhielt sich mit der Haut wie mit der Schuld: Man blieb auf immer mit ihr verbunden. Und so war sie an Johanna gefesselt und teilte ihr Schicksal, indem sie sich zurückzog in eine innere Welt, die jeden direkten Kontakt mit dem Außen vermied.
„Guten Tag. Sie sind Frau Nowak? Haben Sie Ihr Bettlaken dabei?“
Sie erhob sich von dem Stuhl, auf dem sie vor dem Behandlungsraum auf ihren Termin
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