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Sterben War Gestern

Sterben War Gestern

Titel: Sterben War Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corinna Waffender
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aussteigen? Sie am Ende ausbooten? Nein. Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie sich von dem beklemmenden Gedanken befreien. So war Jens nicht. Außerdem hatte er ihr gegen zwölf endlich eine SMS geschickt, dass er sie dringend in der Datscha erwarte. Sie solle sich beeilen und bis dahin ihr Handy ausschalten. Sie müssten jetzt vorsichtiger sein und er habe interessante Neuigkeiten. Er hatte ja recht – von jetzt an konnte alles passieren. Von dieser Gewissheit zeugten ihre feuchten Hände. Und von einer nervösen Unruhe, die man auch einfach Angst nennen konnte.
    Ellen Weyer schaute auffällig oft in den Rückspiegel, besonders als sie das Waldstück erreicht hatte und langsam einen unbefestigten Weg entlangholperte. Die offene Reisetasche im Kofferraum war umgekippt, die oben aufliegenden Turnschuhe herausgefallen, auf das mit einem Gummiring zusammengehaltene Zeichenpapier. Würde man es aufrollen, zeigte es wilde Wachsmalkreide-Striche in unterschiedlichen Rot- und Gelbtönen. Sie waren blind entstanden, in einer Art Trance zu rhythmischer Musik. Die Beine hatten sich unwillkürlich im Takt bewegt, die Hände wahllos nach einer zuvor auf die Ablage der Staffelei gelegten Kreide gegriffen und in immer schnellerer Abfolge lautstark Spuren auf dem weißen Papier hinterlassen. Erst nach dem vierten Musikstück und als die Kreiden entweder abgebrochen oder zur Neige gegangen waren, hatte sie das Tuch vor den Augen abgenommen und staunend betrachtet, was auf der weißen Fläche entstanden war. Noch erstaunlicher aber fand sie, was der Kunsttherapeut zu ihrem Bild zu sagen hatte, das jetzt, eingeklemmt zwischen Reisetasche und Koffer, und vom Gewicht eines Turnschuhs eingedrückt, im Kofferraum eines Wagens lag, der auf eine Waldhütte zusteuerte.
    „Das ist dein Herz. Es sprüht vor Energie, aber es weiß nicht, wohin damit. So viel ungesteuerte Leidenschaft, die Gefühle scheinen außer Kontrolle.“
    Zu diesem Zeitpunkt hatte sie die Dinge noch im Griff gehabt. Oder zumindest hatte sie es geglaubt. Kurz danach war wirklich alles außer Kontrolle geraten. Sie hatte nicht mit Angela gerechnet. Wie man sich in einem Menschen so sehr täuschen konnte. Aber beruhte nicht das ganze Leben darauf, dass sich alle gegenseitig etwas vorspielten? Waren es nicht oft die schwächsten Glieder einer Kette, diejenigen, die mit subtiler Aggression zur Tat schritten? Und war nicht jeder Akteur auch Opfer seiner Umstände? Die depressive Hausfrau jenseits der Fünfzig jedenfalls, die sie für vollkommen handlungsunfähig gehalten hatte, hatte kopflos gehandelt, und das hatte sie das Leben gekostet. Wie viele in der Klinik waren eigentlich Wölfe im Schafspelz? Oder waren alle Wölfe – die einen mit mehr und die anderen mit weniger Fähigkeiten, sich zu zähmen?
    Eines Morgens hatte Zikowski die Gruppentherapie mit der Geschichte eines alten Indianers begonnen. Sein Enkel hatte ihm die Frage gestellt, wer gut und wer böse sei und woran man das erkennen könne. Der Großvater hatte ihm geantwortet, dass in allen Menschen ein heller und ein dunkler Wolf miteinander kämpften. Daraufhin wollte der Junge wissen, welcher Wolf denn gewinnen würde. Der Indianerhäuptling hatte erwidert: der, den du fütterst. Die Geschichte hatte sie alle sehr beeindruckt und im Anschluss war eine angeregte Diskussion darüber entstanden, ob es tatsächlich so sei, dass Menschen zu jedem Zeitpunkt ihres Lebens die Wahl hätten, sich mitfühlend, aufbauend und konstruktiv oder egoistisch, kriegerisch und zerstörerisch zu verhalten. Ellen Weyer hielt sich für im Grunde gut. Sie wollte niemandem etwas zuleide tun, keinen verletzen. Im Gegenteil, sie kämpfte leidenschaftlich für Gerechtigkeit und das konnte doch nicht schlecht sein. Auch wenn sie dafür manchmal den dunklen Wolf füttern musste, um zu ihrem Recht zu kommen. Zikowski hatte ihr lächelnd zugehört, und sie hatte gespürt, wie der Ärger in ihr hochgestiegen war, weil sie sich nicht ernst genommen fühlte. Er hatte sie angeschaut wie ein Kind, das seine Lektion noch nicht gelernt hatte. Gütig, ein wenig mitleidig und mit dieser Art von sanftem Wohlwollen, das ihr von Anfang an auf die Nerven gegangen war. Aber sie wollte keine Zeit damit verplempern, sich in Diskussionen mit einem Seelenklempner zu verwickeln. Dazu war sie nicht in die Klinik gekommen. Sie arbeitete genau nach Plan und alles war wie am Schnürchen gelaufen. Bis Angela dazwischengefunkt hatte. Nun durfte sie keinen

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