Sterben War Gestern
Abend kühlte es merklich ab, der frische Wind tat sein Übriges, um die Strandspaziergänger frösteln zu lassen.
„Glaub ich nicht. Es gibt bestimmt welche, die nur schlafen wollen.“
„Und können?“
„Bestimmt.“
„Die Glücklichen.“
„Würdest du gern den ganzen Tag schlafen?“
„Definitiv“, antwortete Inge ohne Zögern und dachte: und die ganze Nacht.
Sie liefen eine ganze Weile schweigend nebeneinander her.
„Ist nur es geht so schön“, bemerkte Ewald plötzlich.
„Was?“
„Den ganzen Tag schlafen. Ich hatte so eine Phase. Da konnte ich nichts anderes als schlafen. Schon bei dem Gedanken an irgendeine Art von Anstrengung sind mir die Augen zugefallen. Ich bin müde aufgewacht und müde ins Bett gegangen.“ Er sah sie von der Seite an. „Und irgendwann bin ich einfach liegengeblieben.“
„Lange?“
„Tagelang.“
Sie fragte sich, ob er in der Zeit nichts gegessen und sich nicht geduscht hatte und nicht zur Arbeit gegangen war. Und als ob er ihre Gedanken hätte lesen können, sagte er: „Ich hab im Hotel gewohnt. Zimmerservice. Am Anfang habe ich noch ferngesehen oder mir die Zähne geputzt, am Schluss bin ich nur noch ins Bad, wenn es unbedingt sein musste. Selbstaufgabe in großem Stil.“
„Und wieso liegst du nicht immer noch da?“
Er reagierte nicht, schaute nur weiter geradeaus.
„Entschuldige, die Frage nehme ich zurück.“
„Schon okay.“ Aber eine Antwort gab er nicht.
Das letzte Stückchen Sonne verschwand beeindruckend rot am Horizont von der Bildfläche und sie drehten um, liefen Richtung Klinik am Strand zurück. Inge ging nah am Wasser und die Wellen plätscherten bis an ihre Schuhe heran. Plötzlich blieb sie stehen und blickte auf die heruntergebrannten Wände und das eingestürzte Dach des Raucherclubs, das sich gleich hinter den Umrissen der Klinik abzeichnete.
„Ich bin bei der Kripo. Meinst du, es hat etwas zu bedeuten, dass es ausgerechnet jetzt in dieser Klinik einen Mord gibt?“
Sie musste verrückt sein. Wie kam sie dazu, einem völlig Unbekannten davon zu erzählen? Doch bevor sie die Frage ins Lächerliche ziehen konnte, um ihr die Bedeutungsschwere zu nehmen, antwortete er bereits, vollkommen gelassen und ernsthaft, als hätte ihn weder die eine noch die andere Neuigkeit wirklich überrascht.
„Natürlich. Alles hat etwas zu bedeuten.“ Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken, was ihn noch ein Stück größer wirken ließ. „Hast du schon einen Verdacht?“
„Mich geht der Fall nichts an.“
„Aber du machst dir doch bestimmt deine Gedanken. Immerhin hast du das Opfer gekannt.“
Inge Nowak kam sich eigenartig vor. Als würde er sie befragen. Doch es war ihr gar nicht unangenehm. Die ganze Szene mit diesem riesigen Mann, der unglaublich schnell denken konnte und nicht weniger schnell sprach, an diesem menschenleeren Strand, schien ihr eher unwirklich, wie im Traum.
„Ich frage mich, ob Ellen mehr weiß, als sie uns gegenüber gesagt hat.“
Ewald Klee nickte, und Inge konnte förmlich spüren, wie es in seinem Gehirn arbeitete. Schließlich erwiderte er: „Wenn jemand in der Klinik etwas weiß, dann sie. Immerhin haben die beiden wochenlang an einem Tisch gesessen. Wieso denkst du überhaupt, dass es kein Selbstmord war?“
„Meine hiesigen Kollegen haben sich vor meinem Balkon unterhalten.“
„Du hast gelauscht.“ Er stellte das in einem Tonfall fest, der weder entlarvend noch vorwurfsvoll war.
„Ich habe nicht weggehört“, verbesserte ihn Inge. Nach ein paar Schritten wusste sie, dass es an der Zeit war. Jetzt und an dieser Stelle. „Und ich bin hier, weil ich nicht damit fertig werde, schuld daran zu sein, dass eine Zwanzigjährige mit meinem Wagen in die Luft geflogen ist.“ Sie spürte hart die Faust in der Magengrube zuschlagen, sie schluckte, schwankte ein wenig und der Ton im Ohr wurde lauter. Es war das erste Mal, dass sie es aussprach, und es klang fremd.
„Heavy.“
Ewald wirkte ehrlich betroffen, fragte nicht weiter. Er zog nur seinen Kragen enger und hielt ihn fest, während sie gegen den Wind liefen.
„Posttraumatische Störung.“ Sie blieb wieder stehen, drehte sich zu ihm. „Steht in meiner Krankenakte.“
„Burn-out, angenehm.“ Er streckte ihr seine Hand hin. Für einen Moment war sie verwirrt, dann schlug sie ein und beide mussten lachen.
Den Rest des Weges sprachen sie nichts, doch bevor sie die Klinik betraten, hielt sie ihn zurück.
„Tust du mir einen
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