Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sterben War Gestern

Sterben War Gestern

Titel: Sterben War Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corinna Waffender
Vom Netzwerk:
Gefallen?“
    „Ich erzähle nicht herum, womit du dein Geld verdienst, keine Angst.“ Er grinste. „Aber nur, wenn du mir versprichst, mich im Falle des Falles zu deinem Assistenten zu machen.“
    Sie schüttelte belustigt den Kopf und verabschiedete sich mit einer kurzen Handbewegung. Auf dem Weg in ihr Zimmer kam sie im Vorraum des Flurs an dem Bauernschrank mit dem Garderobenspiegel vorbei. Sie blieb kurz stehen und begutachtete ihren neuen Haarschnitt. Zum ersten Mal seit Monaten fühlte sich Inge Nowak ein ganz klein wenig leichter.
    Sie hatte Durst, sie hatte Hunger und sie hatte sich bereits mehrfach in der Ecke des feuchten Erdlochs erleichtern müssen. Im Flackern des Kerzenscheins war es ihr wieder und wieder so vorkommen, als ob der Tote vor ihr noch lebte. Sein Gesicht hatte sich zu einer geisterhaften Fratze verzerrt, und sie hatte sich vor Angst in sich zusammengerollt. Doch es nützte nichts. Das Weiß seiner Augen verfolgte sie auch hinter den geschlossenen Lidern. Um sich seinem Blick zu entziehen, kippte sie den starren Körper schließlich zur Seite, bis er umfiel. Dabei erlosch die Kerze, seither saß sie im Dunkeln.
    Draußen mochte noch heller Tag oder schon dunkle Nacht sein – sie wusste es nicht, sie war davon ausgeschlossen. Jemand hatte sie in eine Art Aushub gesperrt, der vielleicht zwei auf zwei Meter groß war. Im Stehen reichte sie mit ausgestreckten Armen an die Bretter in der Decke heran, die sie im Kerzenschein als Falltür ausgemacht hatte, doch sie ließen sich keinen Millimeter bewegen. Sie hatte sich vorsichtig dagegengestemmt, um keinen Lärm zu machen, denn ihr Instinkt warnte sie davor, einen möglichen Bewacher auf sich aufmerksam zu machen.
    Bewacher, eingesperrt, Erdloch, Leiche – sie sagte im Innern diese Worte vor sich her, aber sie ergaben keinen Sinn. Jeder Versuch, sich an etwas zu erinnern, trieb sie auf eine weiße Wolke zu. Je mehr sie sich anstrengte, umso größer wurde die Verzweiflung darüber, keine Bilder heraufbeschwören zu können. Ihr Kopf tat weh und ihr rechter Arm ebenfalls, vor allem das Beugen war außerordentlich schmerzhaft. Wer hielt sie hier fest und warum? Würde man sie auch töten und was wäre der Grund dafür? Wie lange war sie bereits hier unten gefangen? Wie oft vor Erschöpfung eingenickt? Wellenartig überfiel sie eine große Müdigkeit, dann kippte sie weg – minutenlang, stundenlang? Sie konnte es nicht sagen. Nur, dass ihre Zunge beinahe am Gaumen klebte, ihre Kehle völlig ausgetrocknet war und das Schlucken immer schlimmer wurde. Ihre Füße, ihre Hände waren kalt, sie fror am ganzen Körper.
    Eine ausweglose Situation, dachte sie. Und dann: Woher kenne ich diesen Ausdruck?
    Im selben Moment hörte sie Schritte, ein Rütteln an der Decke, und es wurde schlagartig hell. Instinktiv schirmte sie mit der Handfläche ihre Augen ab.
    Etwas wurde zu ihr hinuntergeworfen, es gab ein dumpfes Geräusch, dann schloss sich die Luke wieder. Sie hatte nichts und niemanden erkennen können.
    „He!“ Ihre Stimme versagte, aus ihrer Kehle quälte sich nur ein kratziger Ton, sie räusperte sich und musste husten. Schließlich brachte sie in halber Lautstärke ein paar Worte hervor, von denen sie sicher war, dass niemand außer dem Toten sie hörte: „Ich will hier raus, bitte!“
    Dann tastete sie den Boden ab, um zu sehen, was man ihr hingeworfen hatte. Als sie an die Leiche stieß, erschrak sie und fuhr zurück. Der Tote fühlte sich nicht mehr wie ein Mensch an. Wie fühlte sich ein Lebender an? Wärmer, weicher? Vielleicht war es gar kein Mensch, war nie ein Mensch gewesen – aber wie hätte man ihn dann töten sollen?
    Töten. Um Gottes Willen. Gott? Was war Gott?
    Sie tastete sich weiter, bis sie eine Tüte zu fassen bekam. Darin fühlte sie eine Plastikflasche. Wasser! Sie riss es förmlich an sich, schraubte noch beim Herausholen den Deckel ab und hielt kurz inne. Und wenn man sie vergiften wollte? Vergiften. Wie kam sie darauf? Außer der Flasche ertastete sie noch etwas Rundes, Stumpfes, der Beschaffenheit nach eine dicke Kerze und ein Schächtelchen mit Streichhölzern. Sie stellte die Kerze vor sich auf den Boden, entflammte ein Zündholz, brachte den Docht des weißen Stumpen zum Brennen, und das Erdloch wurde in gelbes, warmes Licht getaucht. Sie versuchte, den leblosen Körper vor sich zu ignorieren, und besah sich stattdessen die Flasche, die zu einem Drittel mit durchsichtiger Flüssigkeit gefüllt war. Schon führten

Weitere Kostenlose Bücher